Als im Februar 2022 durch die Invasion russischer Truppen der Krieg in der Ukraine eskalierte, mussten Millionen Menschen vor den Angriffen fliehen. Viele haben alles verloren und mussten, zumindest vorübergehend, in anderen europäischen Ländern oder innerhalb der Ukraine Zuflucht suchen. Die Situation stellte auch humanitäre Akteure wie Oxfam vor große Herausforderungen: Wir waren weder in der Ukraine noch in den Anrainerstaaten präsent, haben aber ein humanitäres Mandat, Menschen in Not zu helfen. Wie sollten wir reagieren? Wurden wir gebraucht? Wie konnten wir uns als internationale Organisation einbringen und die Akteure vor Ort am besten unterstützen?

Als Mitglied einer international vernetzten Steuerungsgruppe hatte ich die Gelegenheit, an der Beantwortung dieser Fragen mitzuwirken und Oxfams Arbeit in der Ukraine, in Polen, Rumänien und der Republik Moldau aus der Ferne zu begleiten. Bei einem Besuch im Frühjahr dieses Jahres konnte ich dann selbst Eindrücke von der Situation vor Ort und von Oxfams Arbeit im Süden der Ukraine sammeln.

Nun ist die Broschüre „Lernen durch Zuhören“ erschienen, die Oxfams Erfahrungen in der Ukrainekrise beschreibt. Zwei Kernaussagen der Broschüre sind:

  1. Oxfam hat sich von Beginn an darum bemüht, die Partner vor Ort ins Zentrum zu stellen, und damit seine internationalen Verpflichtungen zur Lokalisierung umzusetzen – und daraus zu lernen.
  2. Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen konnten wir im ersten Jahr des Krieges über eine Million Menschen mit lebenswichtiger humanitärer Hilfe unterstützen.

Grundsätze unserer Partnerschaftsarbeit

Für internationale Organisationen wie Oxfam bedeutet Lokalisierung häufig ein Umdenken, eine Veränderung unserer Rolle und Arbeitsweise, um ein inklusiveres und repräsentativeres humanitäres System zu fördern und das ungleiche Kräfteverhältnis und den ungleichen Zugang zu Finanzmitteln zwischen internationalen und lokalen Akteuren zu überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden die folgenden Grundsätze angewandt:

Gemeinsame Verantwortung
Die Partner und Oxfam übernehmen gemeinsam die Verantwortung für die Festlegung der Prioritäten des gemeinsamen Programms auf der Grundlage des humanitären Bedarfs und sind gegenseitig rechenschaftspflichtig. Die Risiken werden geteilt und nicht nur übertragen.

„Ko-Kreation“
Die Partner übernehmen eine führende Rolle bei der Gestaltung und Priorisierung der Maßnahmen auf der Grundlage der sich verändernden Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung.

Flexibilität und Anpassungsfähigkeit
Da die Partner bei der Umsetzung der Programme federführend sind, haben sie die Freiheit, Ziele, Budgets und Zeitpläne entsprechend den sich ändernden Bedürfnissen anzupassen - vorausgesetzt, wir sind uns über die operativen Modalitäten und Qualitätsstandards einig.

Komplementarität
Oxfam erkennt an, dass lokale und nationale Organisationen über starke Kapazitäten verfügen. Dort, wo die Partner mit der humanitären Arbeit weniger vertraut sind, leisten wir bei Bedarf finanzielle und technische Unterstützung, um die Qualität und Rechenschaftslegung des Einsatzes sicherzustellen.

Augenhöhe
Das Verhalten und Methoden von Oxfam in diesem Einsatz verlagern sich von einer vertraglichen Partnerschaft zu einer auf Vertrauen basierenden Arbeitsweise. Der Schwerpunkt liegt auf den Beziehungen und nicht so sehr auf den vertraglichen Verpflichtungen.

Eindrücke der Arbeit vor Ort

Meine Reise Ende Februar führte mich in den Süden der Ukraine, unter anderem nach Mykolaiv. Im Oblast Mykolaiv und der Stadt selbst war die Hauptwasserentnahmestelle zerstört und das Wasserverteilungsnetz an mehreren Stellen beschädigt worden. Wir haben mit den kommunalen Behörden zusammengearbeitet, um Wasserstationen zur Versorgung mit sauberem Trinkwasser zu errichten. Diese Stationen befinden sich in großen Wohnkomplexen und in einigen Einrichtungen und öffentlichen Gebäuden.

Eine Frau steht vor einem Automaten, aus dem Wasser herauskommt und in einen Plastikkanister fließt. Mit solchen Wasserstellen, stellt Oxfam weltweit Trinkwasser zur Verfügung.
Larissisa an einer Wasserstelle von Oxfam
Ich und mein Mann leben hier in Mykolaiv. Es gab einige Wassertanks in der Nähe, aber das Wasser von Oxfam ist jetzt viel näher. Wir hatten zu Hause Wasserhähne, aber die Rohrleitung war beschädigt und wir waren vom Wasser abgeschnitten...
Das Leitungswasser ist jetzt so salzig, dass wir es nicht mehr trinken können. Ich komme alle zwei bis drei Tage zur Wasserstelle. Ich habe zehn Flaschen zu Hause, die ich immer wieder auffülle. Wir verwenden dieses Wasser zum Kochen und Trinken und das Leitungswasser zum Waschen.
Larissisa 67, lebt in Mykolaiv


The Tenth of April
In Nastaivasha, einem Dorf nördlich von Odesa, hatte Oxfams Partnerorganisation "The Tenth of April" eine Notunterkunft für Geflüchtete aus Cherson im Osten Ukraines eingerichtet – Hoffnung für Menschen, die alles hinter sich lassen mussten. Die Projektkoordinatorin Tetiana hat uns beschrieben, wie ihre Organisation, die bereits vor dem Krieg in der Ukraine Rechtsberatung für Geflüchtete angeboten hatte, ihre Arbeit nun dank Oxfams Unterstützung ausweiten und den Menschen auf der Flucht helfen konnte.

Eine junge Frau steht im Türrahmen. Hinter ihr sind Büroräume zu sehen.
Tetiana, 27. Projektmanagerin bei "The Tenth of April"

Es gibt noch viel zu tun

Nicht überall sind wir so weit, dass der Partner-zentrierte Ansatz umgesetzt wird. Ein Ansatz, mit dem auch eine widerstandsfähigere, unabhängigere und vielfältigere Zivilgesellschaft gefördert wird. Doch mit der Unterzeichnung des „Pledge for Change“ haben wir und einige andere Nichtregierungs­organisationen uns erneut selbst verpflichtet, auf diesem Weg weiter voranzugehen.

Dabei setzen wir uns auch für einen direkteren Zugang zu Finanzmitteln für nationale und lokale Organisationen ein. Wir müssen den Anteil unserer eigenen humanitären Mittel, der direkt an diese Organisationen fließt, erhöhen, und sie unseren eigenen Gebern für eine direkte finanzielle Unterstützung vorstellen. Auch eine stärkere Beteiligung und Vertretung dieser Organisationen in internationalen Koordinierungsmechanismen ist von entscheidender Bedeutung, damit sie zur Gestaltung der humanitären Debatte und der Festlegung von Prioritäten beitragen können.

Dies ist auch eine zentrale Forderung an die deutsche Bundesregierung: Das Auswärtige Amt arbeitet zurzeit an einer neuen humanitären Strategie, die im Herbst dieses Jahres vorgestellt werden soll. Auf einer Veranstaltung des humanitären Thinktanks Center for Humanitarian Action hat Susanne Fries-Gaier, Beauftragte für humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amts, im Juli zugesagt, dass Lokalisierung im Rahmen dieser Strategie einen zentralen Stellenwert einnehmen soll.

Ganz entscheidend dafür wird es sein, humanitären Akteuren mehr Flexibilität einzuräumen und zu ermöglichen, dass lokale Organisationen auch Zugang zu freien Geldern bekommen. Dies wurde auch von Luise Amtsberg, der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, vorgeschlagen.

Unsere Erfahrung, nicht nur in der Ukraine, zeigt, wie wichtig es ist, dass diesen Worten Taten folgen.

Unterstützen Sie unsere Arbeit für eine gerechte Welt ohne Armut!

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