Dies war das Ergebnis einer Untersuchung des niederländischen Forschungsinstituts Motivacation, die Oxfam am 22. September vorstellte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung griff diese Meldung in ihrer Ausgabe vom 24. September auf ganz eigene Weise auf und fragte, ob Oxfam nicht mit Schuld daran sei, dass die Menschen von den Erfolgen bei der Armutsbekämpfung so wenig wüssten. Schließlich warnten wir unaufhörlich vor steigender sozialer Ungleichheit.
Wer die FAZ liest, der weiß, dass sie das Problem extremer sozialer Ungleichheit wahlweise kleinredet oder als Motor für Fortschritt und allgemeine Wohlfahrt preist. Organisationen wie Oxfam sind der Redaktion deshalb offenbar ein Dorn im Auge, was man nicht zuletzt aus den teilweise recht unsachlichen Spitzen in ihrer jüngsten Berichterstattung herauslesen kann. Nun können und sollen weltanschauliche Grundhaltungen dieser Art publizistisch ihren Raum haben. Allerdings sollte dabei eine gewisse Sachlichkeit und Detailschärfe walten, die man in der FAZ an dieser Stelle vermisst. Dabei werfen die Redakteure die Begriffe Armut, Ungleichheit, Einkommen, Vermögen und Hunger durcheinander und tragen so ihrerseits zur allgemeinen Desinformation bei.
Aus gegebenem Anlass daher einige Klarstellungen zum Thema:
Armut ist nicht gleich Armut
Die Statistiker unterscheiden zwischen absoluter Armut und relativer Armut. Absolut arm ist, gemäß der oben genannten Statistik, jemand, der weniger als 1,25 US-Dollar am Tag verdient. Die Weltbank hat die Schwelle im vergangenen Jahr angepasst und sieht absolute Armut nun bei weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. Absolute Armut gemäß dieser Definition sollte in Deutschland nicht vorkommen. Dennoch gibt es hierzulande Armut. Es gibt Menschen, für die eine kaputte Waschmaschine ein existenzielles Problem bedeutet, die sich zwischen neuer Kleidung und gesunder Ernährung entscheiden müssen und die es sich nicht leisten können, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Kein Theater, kein Netflix, und kein Cafébesuch mit Freunden. In anderen Ländern kommt hinzu: Kein Zugang zu Bildung und Gesundheit, mitunter nicht mal Zugang zu Recht und Sicherheit. Der Fachbegriff heißt relative Armut, und besagt, dass diese Menschen mit 60 Prozent des mittleren Einkommens ihrer Gesellschaft auskommen müssen. Wer absolute Armut mindert, hat noch lange nicht die relative Armut besiegt.
Ungleichheit heißt nicht Armut
Oxfam bekämpft Armut. Oxfam bekämpft auch soziale Ungleichheit. Das überschneidet sich oft, dennoch ist es nicht dasselbe. Der Hauptpunkt beim Kampf gegen Armut ist, dass viele Leute zu wenig Geld haben. Der Hauptpunkt im Kampf gegen extreme soziale Ungleichheit ist, dass wenige Menschen viel mehr Geld haben als alle anderen und damit die Kluft zwischen Arm und Reich zu groß wird. Geld lässt sich übersetzen in Zugang zu Nahrung, Wohnraum, Gesundheitssystemen, Bildung, politischer und gesellschaftlicher Teilhabe, Sicherheit, Recht. Die absolute Armut kann abnehmen, während die Ungleichheit zunimmt: Wenn alle Einkommen um 100 Prozent steigen, kauft sich jemand mit bisher 10.000 Dollar im Monat irgendwann die zweite Yacht. Jemand mit bisher einem Dollar am Tag kommt auf zwei Dollar und kann die dringend nötige Typhus-Behandlung immer noch nicht bezahlen.
Vermögen ist nicht Einkommen
Die FAZ kritisiert, Oxfam negiere mit seiner steten Warnung vor den Auswirkungen der steigenden sozialen Ungleichheit die Erfolge bei der Armutsbekämpfung. Das ist nicht richtig. Oxfams Bericht „An Economy for the 1%“ von Januar 2016 benennt diese Erfolge ganz klar. Gegenstand unserer Untersuchung war jedoch in erster Linie die Vermögensentwicklung. Bei der Frage absoluter Armut geht es dagegen um Einkommen, und zwar um sehr niedrige. Menschen in absoluter Armut bauen kein Vermögen auf. Dass das Vermögen der ärmsten drei Milliarden Menschen insgesamt sank, während das Einkommen der ärmsten zwei Milliarden stieg, ist daher kein Widerspruch: Absolute und relative Armut hin oder her, auch wer zwei Dollar am Tag verdient, investiert das Geld nicht an der Börse, sondern kauft Essen für die Kinder. Vermögensaufbau ist damit kaum möglich.
Auf die mitunter verzerrenden Lesarten unseres Berichts zur sozialen Ungleichheit haben wir im Januar ausführlich geantwortet. Zu den grundsätzlichen Unterschieden der Indikatoren „Vermögen“ und „Einkommen“ hat der Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic Erhellendes gesagt.
Armut heißt nicht unbedingt Hunger
Menschen sind arm. Menschen hungern. Aber nicht alle Armen hungern, und nicht alle Hungernden sind arm. Millionen Menschen sind von Hunger und Mangelernährung betroffen, weil sie nicht genug Geld haben, sich nahrhafte Lebensmittel zu kaufen oder weil sie nicht genügend produzieren, um sich und ihre Familien gut ernähren zu können. Auch hier ist die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut wichtig. Eine Hungersnot reicht mitunter weit in die Mittelschicht hinein, weil zum Beispiel Krieg und Naturkatastrophen kurzfristig die Nahrungsmittelpreise steigen lassen. Umgekehrt kann eine Hungerkrise allerdings alle Bemühungen im Kampf gegen absolute Armut zunichtemachen, weil 1,90 Dollar am Tag beim besten Willen nicht mehr ausreichen, um satt zu werden..
Ungleichheit heißt nicht Wirtschaftswachstum
Es gibt in der Wirtschaftswissenschaft das Dogma, Ungleichheit führe zu Wachstum, weil
- die Privilegierten mit ihren Gewinnen lauter gutbezahlte neue Jobs schaffen, wodurch am Ende alle profitieren,
- die Unterprivilegierten sich anstrengen, zu den Privilegierten aufzuschließen.
Beides ist falsch. Die These, hohe Gewinne an der Spitze würden schon irgendwie magisch nach unten durchsickern, wird von Wirtschafts-Nobelpreisträgern wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz massiv angezweifelt.
Die Unterprivilegierten wiederum brauchen keine Villen und Sportwagen zur Motivation. Eine warme Mahlzeit für alle Familienmitglieder, ausreichend Geld für Bildung und Gesundheit dürften Motivation genug sein.
Nein, extreme soziale Ungleichheit fördert Wirtschaftswachstum nicht, sie hemmt es. Das sieht unter anderem auch die OECD so und verweist als Grund auf die mangelnden Bildungschancen ärmerer Familien.
Erfolg heißt nicht Aufhören
Die absolute Armut ist gesunken, massiv. Das ist ein Erfolg, auch von Oxfams Arbeit. Wir haben Kampagnen vorangetrieben, um Deutschland auf die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zu verpflichten. Gemeinsam mit unseren Partnern in Entwicklungsländern haben wir arme Frauen und Männer dabei unterstützt, sich fortzubilden, zu organisieren, den Zugang zu Land und Produktionsmitteln einzufordern und sich eigene Existenzen aufzubauen. Viele Millionen Menschen konnten sich aus absoluter Armut befreien. Viele Millionen Menschen hoffen noch auf diesen Schritt. Die Bekämpfung von Vermögens- und Einkommensungleichheit ist von zentraler Bedeutung, um absolute Armut bis 2030, wie von der Weltgemeinschaft versprochen, zu beseitigen.
Aber absolute Armut hinter sich zu lassen, ist ein Schritt auf einem langen Weg. Viele weitere Schritte müssen folgen.
Deswegen legt Oxfam nicht die Hände in den Schoß, wenn es Erfolge bei der Bekämpfung absoluter Armut gibt, sondern fragt, welche Hindernisse es gibt, relativen Wohlstand und die Durchsetzung grundlegender Menschenrechte für alle zu erreichen. Eine Hürde ist und bleibt die zunehmende soziale Ungleichheit auf der Welt, die den Zusammenhalt der Gesellschaften gefährdet und den Nährboden für Gewalt und Konflikte bereitet.
Die FAZ darf gerne weiter unsere Berichte als inhaltliche Provokation begreifen. Es wäre nur schön, wenn sie künftig sauber mit den Begriffen Armut, Ungleichheit und Hunger umgeht. Dann ließe sich inhaltlich gehaltvoll streiten statt nur zu polemisieren.
1 Kommentar
Diesen erfreulichen Klarstellungen bleibt u.a. hinzuzufügen, dass Oxfam in 2015 von den Spenden und Zuwendungen in Höhe von 13,4 Mio einen Betrag von EUR 2,35 Mio EUR (rd. 18% der Erträge) durch die Aktivitäten seiner Oxfam Shops eigenständig erwirtschaftet hat. Auf diesen Oxfam-Eigenbeitrag wurden an die öffentliche Hand Steuern in Höhe von 1,2 Mio EUR abgeführt. Die FAZ hat auch dieses "unwesentliche" Detail in ihrer Berichterstattung leider übersehen.
Diese und andere unsachlichen Spitzen in der FAZ Berichterstattung über Oxfam erwecken nicht den Eindruck, dass es immer "ein kluger Kopf" bzw. eine kluge Redaktion ist, die für einen ausgewogenen Qualitätsjournalismus stehen.