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Benedita Matias sitzt neben einem Radio und macht sich Notizen.
Benedita Matias lernt mit der Radio School in Mosambik. Das Projekt ermöglicht Schüler*innen aus Haushalten ohne Fernsehen und Internet eine Teilnahme am Unterricht, während wegen der COVID-19-Pandemie die Schulen geschlossen sind.

Die Ungleichheitsformel

Bildung
09. Februar 2021

Wer in diesen Wochen mit Eltern spricht, hört von deren enormen Belastungen. Neben den beruflichen Verpflichtungen und finanziellen Sorgen sind irgendwie auch Kinderbetreuung und homeschooling zu organisieren. Erschöpfte, gestresste Eltern und Kinder, nicht funktionierende Lernportale, Druck, Angst vor der Zukunft. Und das Gefühl, dass Belange von Familien und Kindern eine untergeordnete Rolle in der Politik spielen. Das Ergebnis des aktuellen Familienmonitors überrascht daher kaum: Die Mehrheit der Eltern in Deutschland macht sich große Sorgen um die Bildung und die wirtschaftliche Zukunft ihrer Kinder. Das sind mehr als sich Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation machen. Die Schließungen von Schulen und Kitas treffen alle Familien schwer. Doch besonders die Kinder einkommensschwächerer und bildungsferner Schichten zahlen einen hohen Preis. Die Schere im Bildungssystem geht weiter auf.

Doch das ist genau, was gute öffentliche Bildung, die ausreichend finanziert ist, leisten kann: faire Chancen für alle Kinder, ungeachtet der wirtschaftlichen Situation der Eltern, und damit auch soziale Mobilität. Die Krise zeigt uns, dass wir zukünftig mehr in (digitale) Infrastruktur, Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, neue virtuelle Lernräume und Förderprogramme für benachteiligte Gruppen investieren müssen. Dann können wir solche Herausforderungen wie die Corona-Krise meistern, gute Bildungschancen für alle schaffen, und so auch soziale Ungleichheit überwinden. Die Krise muss zu einem Wendepunkt werden: Soziale Grunddienste wie Bildung, aber auch Gesundheit und soziale Sicherungssysteme, müssen weltweit gemeinschaftlich und solidarisch aufgebaut werden, finanziert über faire Steuersysteme.  

Der letzte Schultag für 33 Millionen Kinder

Wie den Eltern und Kindern in Deutschland geht es Familien weltweit. So auch der Familie von Benedita Matias, die im ländlichen Mosambik lebt. Sie geht in die siebte Klasse und möchte später Krankenschwester werden. Benedita weiß, dass sie einen guten Schulabschluss benötigt. Auch in Mosambik waren die Schulen lange geschlossen, und zunächst gab es nur Angebote für ältere Schüler*innen über das Internet oder das Fernsehen. Angebote, die einkommensschwachen Familien auf dem Land nicht zugänglich waren. Benedita hatte Angst, den Anschluss zu verlieren.

Die Corona-Krise hat weltweit die große Lücke bei den Bildungschancen offengelegt und treibt gleichzeitig die unfaire Chancenverteilung an, wie unserer aktueller Bericht „Das Ungleichheitsvirus“ zeigt. Wir erleben die größte Bildungskrise seit 100 Jahren. Bereits benachteiligte Gruppen werden weiter abgehängt. Im vergangenen Jahr schlossen mehr als 180 Länder vorübergehend ihre Schulen, so dass auf dem Höhepunkt der Schließungen fast 1,7 Milliarden Kinder und Jugendliche nicht zur Schule gingen. In den ärmsten Ländern konnten Kinder im Schnitt fast vier Monate nicht zur Schule gehen, in einigen Ländern wurde das komplette Schuljahr gestrichen. Für fast 33 Millionen Kinder und Jugendliche wird der letzte Tag vor den Schließungen im letzten Frühjahr der letzte Schultag in ihrem Leben gewesen sein – sie werden wohl nie wieder ins Klassenzimmer zurückkehren.

Erfolge der Geschlechtergerechtigkeit der letzten 20 Jahre zerstört

Für Mädchen und junge Frauen ist die Situation besonders dramatisch: In der Pandemie nahmen unfreiwillige frühe Schwangerschaften zu. Mindestens eine Million schwangere Mädchen im schulpflichtigen Alter könnten allein in Afrika südlich der Sahara am Ende der COVID-bedingten Schulschließungen ihren Zugang zu Bildung verlieren. Laut Schätzungen werden Kinderehen in Folge zunehmender Armut in den kommenden Jahren um 13 Millionen zunehmen. So drohen die Auswirkungen der Pandemie die in den letzten 20 Jahren hart errungenen Fortschritte bei den Bildungschancen für Mädchen zu zerstören. Und das führt wieder zu mehr Armut und Ungleichheit.

Ungleichheit beim Zugang zu Lernangeboten über Internet und Radio

Die Kinder, die Bildung am meisten brauchen, um aus der Armut herauszukommen, sind diejenigen, die am ehesten zurückgelassen werden. Ärmere Schüler*innen – sowohl in Ländern mit hohem als auch mit niedrigem Einkommen – haben weniger Zugang zu Fernunterrichtsprogrammen über Radio oder Internet. So fallen sie ohne zusätzliche Unterstützung weiter zurück. Was für einkommensschwächere Familien schon in Deutschland ein Problem sein kann, ist in ärmeren Ländern noch schwieriger.

Laut UNICEF hatten mehr als ein Drittel aller Kinder weltweit keinerlei Zugang zu Fernunterricht. In Lateinamerika und der Karibik haben nur 30 % der Kinder aus armen Familien Zugang zu einem Computer, verglichen mit 95 % der Kinder aus reichen Familien. Ethnische und sprachliche Minderheiten werden durch den Fernunterricht ebenfalls benachteiligt: Es ist weniger wahrscheinlich, dass sie im Online-Unterricht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden oder gedruckte Materialien in dieser Sprache nach Hause geschickt bekommen. Für Kinder mit Behinderungen gibt es kaum entsprechende Angebote, die ihre Bedürfnisse berücksichtigen.

Hoffnung verspricht ein Bildungsprojekt in Mosambik, an dem auch Benedita Matias teilnimmt: Mehr als 15 lokale Radiostationen übertragen Unterrichtseinheiten und erreichen mehr als eine Million Kinder in Mosambik. Das ist ein wichtiger Schritt, um Kindern das weitere Lernen zu ermöglichen und sie zurück in die Schule zu bewegen, sobald die Klassenzimmer wieder geöffnet sind. Das Projekt wurde u. a. von unserer dänischen Schwesterorganisation Oxfam IBIS mitinitiiert.

Care-Arbeit verschärft die Geschlechterungerechtigkeit

Mädchen, die bereits vor der Pandemie 40 % mehr Zeit mit Hausarbeit verbrachten als Jungen, sehen ihre Bildung weiter gefährdet. Zwei Drittel der Mädchen machen mehr Hausarbeit, und mehr als die Hälfte der Mädchen berichten, dass sie während der Pandemie mehr Zeit mit der Betreuung von Geschwistern verbringen. Außerdem ist der Zugang zu mobilen Internetdiensten, die ihnen den Zugang zu digitalem Lernen ermöglichen würden, für Mädchen und Frauen im Vergleich zu Jungen und Männern weltweit um 26 % geringer.

Unterfinanzierung × Pandemie = Ungleichheitskrise

Die Corona-Pandemie hat die systemischen Probleme in den Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit offengelegt und verschärft sie. Jahrelange Unterfinanzierung und Vernachlässigung öffentlicher Bildungssysteme haben ungleiche Bildungschancen für Kinder armer und reicher Familien geschaffen. Sie haben zu schwacher schulischer Infrastruktur, Mangel an Fachkräften und schlechter Qualität geführt. Nicht nur in Deutschland wurde der Aufbau digitaler Infrastruktur, die auch einkommensschwachen Familien zur Verfügung steht, völlig verschlafen. In der Krise sind die öffentlichen Systeme zu schwach aufgestellt, um kurzfristig flächendeckend alternative Lernformate anzubieten.

Das rächt sich in der Pandemie bitter und treibt die Ungleichheit der Bildungschancen voran. Viele arme Familien in Ländern mit niedrigem Einkommen müssen die schulische Bildung ihrer Kinder aufgeben, und damit auch die Aussicht auf eine gute Ausbildung und einen fair bezahlten Job, der ein Leben frei von Armut ermöglicht. Unterdessen sind wohlhabende und bei den Bildungschancen ohnehin privilegierte Familien eher in der Lage, die Auswirkungen der Schulschließungen über bezahlte zusätzliche Bildungsangebote aufzufangen. In den USA beispielsweise legen viele wohlhabende, überwiegend weiße Familien ihre Ressourcen zusammen, um private Tutoren zu engagieren.  Diese unterrichten die Kinder zu Hause in kleinen privaten Gruppen, die als „Pandemie-Pods“ bekannt sind. Hier zeigt sich deutlich die Formel der sozialen Ungleichheit: Unterfinanzierung öffentlicher Systeme, die vor allem den Ärmsten nützen, ungleiche Vermögensverteilung, die es Wohlhabenden erlaubt, sich die besten Dienstleistungen zu kaufen, schwache Steuersysteme, die zu wenig Steuern von den Superreichen und großen Unternehmen einziehen, um staatliche Systeme ausreichend zu finanzieren. Das, multipliziert mit der Pandemie, ergibt eine enorme Ungleichheitskrise.

Doch diese Formel kann auch anders gelöst werden. Um soziale Ungleichheit zu bekämpfen, brauchen wir öffentliche Bildungs-, Gesundheits- und soziale Sicherungssysteme, die allen Menschen zugänglich sind und eine gute Versorgung, Ausbildung und Absicherung garantieren. In Deutschland und weltweit.

Zur Finanzierung müssen Konzerne und sehr reiche Menschen ihren fairen Anteil zum Allgemeinwohl beitragen. Dazu kann beispielsweise eine einmalige Steuer auf in der Corona-Krise entstehende außergewöhnliche Gewinne von Konzernen, z. B. im Digitalsektor, beitragen. Zudem gilt es, eine stärkere Besteuerung großer Vermögen ins Auge zu fassen und eine umfassende Finanztransaktionssteuer einzuführen.

Internationaler Bildungsgipfel im Sommer muss Bildungsfinanzierung sichern

In vielen Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen sind Haushaltskürzungen im Bildungssektor wegen der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu befürchten. Hier ist auch die internationale Gebergemeinschaft gefragt: Ohne die solidarische Unterstützung wirtschaftlich starker Länder wie Deutschland werden arme Länder die Ungleichheitskrise der Bildung nicht überwinden können. Im Sommer steht – angelehnt an den G7-Gipfel – ein „Education Summit“, ein Bildungsgipfel der Globalen Bildungspartnerschaft GPE an. Bei dem Gipfel wird es auch darum gehen, dringend benötigte finanzielle Unterstützung für Entwicklungsländer einzuwerben. Deutschland sollte hier ein starkes Signal für die Rechte aller Kinder weltweit auf eine gute Bildung setzen und eine ambitionierte Zusage machen. Wir haben einen fairen Anteil Deutschlands an der Finanzierung der GPE von 110 Millionen Euro jährlich errechnet. Bisher stehen wir bei 75 Millionen Euro. In Zeiten der Pandemie dürfen wir globale Solidarität nicht vergessen und müssen weiter am Ziel festhalten, Armut und Ungleichheit zu überwinden. Wir fordern daher von der Bundesregierung, mehr Mittel für globale Bildungsgerechtigkeit bereitzustellen. Denn die Ungleichheit zu überwinden, ist möglich – mit solidarischen Entscheidungen im Interesse der Allgemeinheit.

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