Das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Anne-Christin Mittwoch beantwortet zwei Fragen hinsichtlich der Ausgestaltung des Geltungsbereichs des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG). Anlass des Gutachtens ist die anstehende Umsetzung der europäischen Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD).

Diskutiert wird einerseits die Frage, ob es auf Grundlage des Unionsrechts möglich ist, bei der Umsetzung der CSDDD von den Vorgaben des zeitlich gestaffelten Geltungsbereichs des Art. 37 CSDDD abzuweichen und stattdessen den Schwellenwert des § 1 LkSG von 1.000 Beschäftigten beizubehalten und auf die Einführung von Umsatzschwellenwerten ganz zu verzichten. Die von der CSDDD vorgesehenen Schwellenwerte beginnen bei 5.000 Beschäftigten und 1,5 Mrd. Euro Nettoumsatz für die erfassten Unternehmen. Des Weiteren untersucht das Gutachten die Frage, ob es auf Grundlage des Unionsrechts für den deutschen Gesetzgeber sogar zwingend ist, bei der Umsetzung der CSDDD von den Vorgaben des gestaffelten Anwendungsbereichs gem. Art. 37 CSDDD abzuweichen und stattdessen den Schwellenwert des § 1 LkSG beizubehalten. Es beantwortet damit die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber an der Einführung der Umsatzschwellenwerte der CSDDD und einer damit einhergehenden Verkleinerung des Geltungsbereichs des LkSG gehindert ist

In Bezug auf die erste Frage kommt das Gutachten zu dem Schluss, dass der deutsche Gesetzgeber jedenfalls die Möglichkeit hat, den weiteren Geltungsbereich des LkSG beizubehalten und die Anzahl der erfassten Unternehmen nicht durch eine höhere Anzahl von Beschäftigten oder Umsatzschwellenwerten einzuschränken. Denn da die Vorschriften des Geltungsbereichs durch die Richtlinie nicht „vollharmonisiert“ sind, sondern nur einen Mindeststandard festschreiben, darf der Gesetzgeber „nach oben“ abweichen. Die im Fall der Vollharmonisierung entscheidende Frage, ob der nationale Gesetzgeber innerhalb oder außerhalb des Anwendungsbereichs der europäischen Richtlinie arbeitet, stellt sich hier nicht. Der deutsche Gesetzgeber darf den Geltungsbereich der nationalen Regelung jedenfalls durch eine im Vergleich zur CSDDD höhere Zahl erfasster Unternehmen erweitern.

Zweitens darf die Richtlinie aufgrund des Verschlechterungsverbots des Art. 1 Abs. 2 CSDDD nicht zum Anlass genommen werden, eine Absenkung eines bereits erreichten nationalen Schutzniveaus zu bewirken. Da gemäß Erwägungsgrund 31 der CSDDD und dem Sinn und Zweck der Richtlinie auch die Gestaltung ihres Geltungsbereichs das von ihr erzeugte vom Schutzniveau betrifft, darf der Gesetzgeber bei der Umsetzung den Geltungsbereich und die Anzahl der erfassten Unternehmen nicht verkleinern. Aufgrund der europarechtlichen Vorwirkung von Richtlinien bzw. dem Frustrationsverbot, wonach die Mitgliedstaaten bereits vor der Umsetzung keine Vorschriften erlassen dürfen, die dem Sinn und Zweck der Richtlinie widersprechen, steht Art. 1 Abs. 2 CSDDD bereits ab ihrem Inkrafttreten sowohl einer Änderung der bestehenden Beschäftigtenschwellen des LkSG als auch einer Einführung von Umsatzschwellen entgegen.