ÖkologiePolitik: Herr Kowalzig, welchen Einfluss hat der Klimawandel auf Migrationsbewegungen?
Jan Kowalzig: Wenn Menschen in den armen Ländern ihre Heimat verlassen, geschieht dies immer aus sehr unterschiedlichen Gründen – das kann fluchtartig geschehen, etwa um sich vor plötzlich ausbrechenden Konflikten oder Naturkatastrophen in Sicherheit zu bringen oder um politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung zu entgehen. Oder aber Menschen begeben sich mehr oder weniger geplant auf Wanderschaft, weil vor Ort ein Leben in Würde und frei von Armut unmöglich ist.
Das kann an Marginalisierung von Teilen der Bevölkerung liegen, an fehlendem Zugang zu Land, Wasser und anderen natürlichen Ressourcen, außerdem an fortschreitender Zerstörung der Ökosysteme, von denen gerade in den armen Ländern viele Menschen abhängen, sowie an schlechten wirtschaftlichen Perspektiven ganz allgemein, was wiederum eine Folge von schlechter Regierungsführung, fehlender Infrastruktur, mangelhaftem Zugang zu Märkten, aber auch von der unfairen Handels-, Agrar- oder Fischereipolitik der reichen Länder sein kann. Der Klimawandel verstärkt viele dieser Gründe – die übrigens oft in einem komplexen Bündel auftreten.
Wo ist der Klimawandel heute schon ein spürbarer Grund für Migration?
Vor allem in den Teilen der Welt, wo sich jetzt schon die Niederschlagsmuster verändern. Mancherorts regnet es weniger als früher und die Pflanzen vertrocknen in einer schweren Dürre, anderswo fällt der Regen sintflutartig und spült die Ernte von den Feldern. Die Temperaturen steigen, was das Arbeiten auf den Feldern erschwert und das Wachstum der Pflanzen beeinträchtigt. Der steigende Meeresspiegel drückt Salzwasser in die Grundwasserspeicher und führt, in Verbindung mit schweren Stürmen, außerdem zu mehr Überschwemmungen, was neben der Zerstörung von Infrastruktur auch Felder und Brunnen versalzen lässt.
Diese schleichenden Veränderungen erodieren nach und nach die Lebensgrundlagen der Menschen. Sie werden dadurch anfälliger gegenüber den erwähnten bestehenden Problemen, mit denen sie sich ohnehin herumplagen müssen. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo die Menschen wegen eines Bündels aus Armut, Mangel an Land und Wasser, politischer Marginalisierung und nun auch noch dem Klimawandel ihre Heimat aufgeben müssen.
Die Rolle des Klimawandels wird dabei in Zukunft größer werden. Das kann ganz verschiedene Formen annehmen: Weil das Land austrocknet, sinken die Ernten so stark, dass das Einkommen nicht mehr ausreicht, die Familien zu ernähren. Trinkwasser wird knapp, das Vieh findet keine Weideflächen mehr. Flache Küstengebiete und kleine Inseln werden wegen der erwähnten Versalzung von Böden, Brunnen und Grundwasser unbewohnbar, übrigens lange bevor das Land komplett in den Fluten versinkt. Auch schwere Tropenstürme, die ganze Landstriche verwüsten, werden durch den Klimawandel weiter angefeuert. Zwar lassen sich solche Extremereignisse nicht klar dem Klimawandel zuschreiben, weil es sie auch schon früher gegeben hat, aber auslösende Faktoren wie beispielsweise steigende Wassertemperaturen werden vom Klimawandel beeinflusst.
Gibt es heute schon Migrationsströme, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind?
Große, ausschließlich vom Klimawandel ausgelöste Migrationsströme, die heute oder in naher Zukunft über die Kontinente ziehen, gibt es so nicht. Dafür sind die Zusammenhänge viel zu komplex. In Bangladesch gibt es viele dörfliche Gemeinschaften im flachen Küstengebiet und an den Flussufern, die immer wieder komplett umsiedeln müssen, weil das Land von Überschwemmungen, Erosion und Versalzung heimgesucht wird. Aus ähnlichen Gründen laufen auf den Carteret-Inseln, einer Inselgruppe Papua-Neuguineas, bereits seit einigen Jahren Umsiedlungsprogramme.
Solche Beispiele stellen die Rolle des Klimawandels sehr deutlich heraus. In den meisten Fällen aber sind die Zusammenhänge viel komplexer. Den „Klimaflüchtling“ wird es nur in den seltensten Fällen geben. Der Klimawandel tritt eher als Verstärker bestehender Probleme auf. Überall in der Welt leben Menschen in ohnehin prekären Verhältnissen, und sie geraten auch heute schon wegen des Klimawandels noch einmal zusätzlich unter Druck. Es dürfte also schon heute für viele Menschen zutreffen, dass der Klimawandel bei ihrer Entscheidung zur Migration eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat.
Hat der Klimawandel auch in der Syrienkrise eine Rolle gespielt?
Das ist durchaus möglich. Vor Ausbruch der Krise war die Region von einer extrem schweren, jahrelangen Trockenheit heimgesucht worden, was nicht nur die Ernten verknappt hat, sondern viele Menschen dazu zwang, in die Städte zu ziehen und dort nach Arbeit zu suchen. Das hat die sozialen Spannungen noch einmal erheblich erhöht. Natürlich ist damit der Klimawandel nicht die eigentliche Ursache. Aber: Die schlimme Dürre hat bestehende Probleme weiter verstärkt und die Dürre passt zu den Klimamodellen der Wissenschaftler, denen zufolge der Nahe Osten wegen des Klimawandels trockener wird.
Wohin fliehen die „Klimaflüchtlinge“?
Menschen, die vor einer Naturkatastrophe, etwa einem tropischen Sturm oder einer Überschwemmung, fliehen, bleiben in aller Regel im Land oder zumindest doch in der unmittelbaren Region – und sind dann etwa in Notunterkünften auf humanitäre Hilfe angewiesen. So mussten beispielsweise 2013 auf den Philippinen rund 4 Mio. Menschen vor dem Super-Taifun Haiyan die Flucht ergreifen. In aller Regel kehren diese Menschen später wieder nach Hause zurück, um sich an den Wiederaufbau zu machen. Ist allerdings absehbar, dass wegen des Klimawandels die Katastrophen so häufig werden, werden sich viele Menschen entscheiden müssen, eben nicht wieder zurückzukehren.
Bei den schleichenden Veränderungen ist die Verortung schwieriger, denn die Ursachen der Flucht bzw. der Migration sind viel komplexer. Wenn die Landwirtschaft kein Auskommen mehr bietet, liegt das vielleicht an der zunehmenden Trockenheit, vielleicht aber noch mehr an der ungleichen Verteilung des knappen Wassers, etwa zwischen Kleinbauern und Agrarkonzernen. Jedenfalls ziehen dann Menschen – übrigens vor allem die Männer – meist vom Land in die Städte, um dort nach Arbeit zu suchen, seltener ins Ausland, und wenn, dann eher in die direkten Nachbarländer mit vertrautem Kulturkreis.
Welche Länder werden besonders betroffen sein?
Der Klimawandel wird als Treiber von Flucht und Migration dort am stärksten wirken, wo die Menschen den klimatischen Veränderungen besonders stark ausgesetzt sind und sich gleichzeitig am wenigsten wehren können, etwa wegen der verbreiteten Armut. Die verwundbarsten Länder liegen nahezu allesamt in den Tropen oder Subtropen. Insbesondere in Afrika drohen erhebliche Beeinträchtigungen der Nahrungsmittelproduktion bzw. der Lebensgrundlagen für die Menschen dort. Aber auch in Süd- und Südostasien sind viele Regionen stark bedroht, etwa die flachen Küsten und Flussdeltas. Der Anstieg des Meeresspiegels könnte in den kommenden Jahrzehnten zig Millionen Menschen in Bangladesch dazu zwingen, ihre Heimat aufzugeben, weil ein Großteil der Bevölkerung an der sehr flachen Küste lebt. Aber auch in Lateinamerika wird es Abwanderung geben – wenn die Gletscher schmelzen, wird vielerorts das Trinkwasser knapp werden, sodass die Menschen wegziehen müssen.
Die kleinen, oft sehr flachen Inselstaaten im Pazifik und im Atlantik stehen vor einem besonderen Problem: Sie könnten komplett unbewohnbar werden oder sogar das gesamte Staatsgebiet verlieren, sodass sich die Bewohner nicht einfach in einer anderen Region im eigenen Land niederlassen können. Dann droht diesen Menschen nicht nur der Verlust der Lebensgrundlagen, sondern auch der Verlust ihrer kulturellen Identität und Traditionen, die oft fest mit dem Land verbunden sind.
Und völlig unklar sind völkerrechtliche Fragen: Hört ein solches Land auf zu existieren, wenn es kein bewohnbares Staatsgebiet mehr hat? Verliert es dann seinen Sitz bei den Vereinten Nationen? Was geschieht mit Fischerei- bzw. Ressourcenrechten? Bekommen die ehemaligen Bewohner anderswo ein neues Staatsgebiet „zugewiesen“? Die Regierung der Malediven ist jedenfalls bereits offiziell auf der Suche nach einer neuen Heimat für ihre 380.000 Bewohner.
Wie viele „Klimaflüchtlinge“ gibt es zurzeit und wie viele werden es?
Zufriedenstellend beantworten kann man diese Frage nicht, weil es den „Klimaflüchtling“ an sich fast nicht gibt, weil meist ein Ursachenmix vorliegt. Im Durchschnitt müssen heute pro Jahr etwa 20 Mio. Menschen vor klimabedingten Katastrophen fliehen – aber nicht jede Katastrophe lässt sich eindeutig auf den Klimawandel zurückführen. Vorhersagen für die Zukunft sind gleichfalls schwierig. Vor dem steigenden Meeresspiegel werden einer Studie der British Royal Society zufolge bis 2100 weltweit bis zu 190 Mio. Menschen fliehen müssen, wobei diese Zahl sehr stark davon abhängt, wie viel in den Küstenschutz bzw. Deichbau investiert werden wird.
All diese Zahlen lassen außer Acht, für wie viele Menschen der Klimawandel vielleicht nicht der einzige Grund sein wird, aber die ohnehin schwierigen Lebensbedingungen so sehr verschlechtert, dass sie sich zur Migration entscheiden – ob nun innerhalb eines Landes, etwa vom Land in die Städte, oder über Ländergrenzen hinweg. Das ist schlicht nicht zu beziffern. Sicher ist nur: Der Klimawandel wird in Zukunft zu einem wachsenden Treiber für Migration werden.
Können Klimaflüchtlinge politisches Asyl beantragen?
Nein. Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt nur die Schutzansprüche von Menschen, die aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt werden. Der Klimawandel gilt nicht als Asylgrund. Wer vor dem Klimawandel flieht, etwa weil seine Heimat austrocknet oder im steigenden Meeresspiegel versinkt, gilt – etwas vereinfacht gesagt – als Wirtschaftsflüchtling. Das ist äußerst zynisch, weil diese Menschen in der Regel kaum oder gar nichts zum Klimawandel beigetragen haben – ganz anders als die reichen Länder, die diese Menschen nun an ihren Grenzen abwehren wollen.
Was sollte die deutsche und europäische Politik tun?
Der Umgang mit Migration und Flucht infolge des Klimawandels muss umfassend gedacht werden. Das bedeutet zunächst, dass Deutschland und Europa deutlich mehr für den Klimaschutz tun müssen, um den Klimawandel und seine Zerstörungskraft in den armen Ländern zu begrenzen. Wichtigster Schritt ist dafür der Einstieg in den Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohle in Deutschland in den kommenden 20 Jahren.
Zweitens muss Deutschland wesentlich mehr Unterstützung für die armen Länder bereitstellen, damit diese sich an die klimatischen Veränderungen anpassen können und langfristig die Lebensgrundlagen der Menschen „klimafest“ machen, etwa zur Sicherung der Ernten durch Bewässerungssysteme oder zum Schutz vor künftigen Katastrophen durch Frühwarnsysteme.
Drittens wird all das nicht verhindern können, dass der Klimawandel Menschen zu Flucht und Migration zwingt – diese Menschen brauchen dann direkte Unterstützung etwa beim Aufbau neuer Lebensgrundlagen am neuen Ort, einschließlich rechtlicher Fragen hinsichtlich ihrer Schutzansprüche. Eventuell wird es dafür über kurz oder lang ein neues völkerrechtliches Instrument geben müssen, mindestens aber wesentlich mehr Kooperation zwischen den Staaten.
Und schließlich müssen Deutschland und Europa dringend ihre Flüchtlings- und Migrationspolitik verändern. Europa ist einer der Hauptverursacher des Klimawandels. Unsere Produktions- und Konsummuster, aber auch unsere Handels-, Agrar- und Fischereipolitik zerstören anderswo Lebensgrundlagen der Menschen, die sich unter anderem auch deswegen, wenn auch nicht ausschließlich, auf den Weg machen. Das Vorhaben, den zu großen Teilen auf Kosten der übrigen Welt aufgebauten Wohlstand mit Stacheldraht und Abschottung zu verteidigen, halte ich für unverantwortlich.
Das Interview erschien ursprünglich in der Ausgabe 170 von ÖkologiePolitik
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