Neuen Kommentar hinzufügen

Slum neben Hochhäusern in Mumbai, Indien
Slum neben Hochhäusern in Mumbai, Indien

Von der Lotterie des Lebens zum guten Leben für alle

Internationaler Tag der sozialen Gerechtigkeit
19. Februar 2019

Stellen Sie sich vor, Sie werden in Nepal als Tochter einer armen Familie geboren. Würden Sie über ähnliche Chancen verfügen, Ihre Ideen zu verwirklichen und Ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, wie Sie es als Kind einer wohlsituierten Familie in Deutschland tun könnten? Wir alle wissen, dass dies nicht der Fall ist.

Die eigene Position in der globalen Einkommensverteilung ist ein entscheidender Indikator dafür, über welche Ressourcen ein Mensch verfügt, um das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Diese Position bestimmt sich dem ehemaligen Weltbank-Ökonomen Branko Milanovich zufolge zu bis zu 60 Prozent danach, in welchem Land wir geboren sind bzw. wo wir leben. In dieser Lotterie des Lebens haben sowohl die Autorin als mutmaßlich auch die meisten Leser*innen dieses Textes das große Los gezogen.

Wer das Glück hat, in Deutschland geboren zu sein, oder – trotz hoher Hürden für Einwander*innen – dauerhaft hier leben darf, gehört nicht (mehr) zu jenen rund 736 Millionen Menschen, die laut Weltbank noch immer in extremer Armut leben. Extreme Armut bedeutet, dass diese Menschen über weniger als 1,90 US-Dollar am Tag verfügen.

Zugleich gehören die hier lebenden Menschen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht zu jenen 10 Prozent  der Weltbevölkerung, die laut Welternährungsorganisation hungern. Und ebenso selten zählen sie zu jenen 71 Prozent der Weltbevölkerung, die laut Internationaler Arbeitsorganisation über keinen oder nur unzureichenden Zugang zu sozialer Sicherung verfügen.

Ist das gerecht? Nein, das ist es nicht.

Chancen sind nicht nur global ungleich verteilt, sondern auch national

Die Chancen eines nepalesischen Mädchens, das in ärmsten Verhältnissen aufwächst, zur Schule gehen zu können, sind jedoch nicht nur im Verhältnis zu Deutschland schlecht, sondern auch im Vergleich zu den reichen Kindern ihres Landes:

Ein Mädchen aus armen Verhältnissen besucht in Nepal durchschnittlich nur ein Jahr die Schule, Kinder aus reicheren Familien hingegen neun Jahre. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ein armes Kind vor seinem ersten Geburtstag stirbt, liegt drei Mal höher als bei einem Kind aus einer reicheren Familie im selben Land.

Die Lotterie des Lebens ist also nicht nur global gesehen ungerecht, sondern auch im nationalen Maßstab. Dies gilt auch für Deutschland. Auch hierzulande hängen Wohlstand und Bildung stark von der Herkunft ab:

Eine Studie der OECD zeigt: Kinder aus Familien, in denen die Eltern bereits einen Universitätsabschluss erwarben, machen zur Hälfte ebenfalls einen solchen Abschluss. Unter Kindern von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss gelingt dies dagegen nur jedem zehnten Kind. Die Wahrscheinlichkeit für einen Sohn, dessen Vater ein niedriges Einkommen hat, ebenfalls wenig zu verdienen, und die für einen Sohn eines Vaters mit gutem Einkommen, ein eben solches zu erhalten, ist in Deutschland jeweils deutlich höher als im OECD-Durchschnitt. Und das Wirtschafts- und Sozialpolitische Institut, WSI, kommt zu dem Ergebnis, dass sich Armut und Reichtum in Deutschland gleichermaßen verfestigen.

Ist das gerecht? Nein, das ist es nicht.

Frauen subventionieren Wirtschaft mit 10 Billionen US-Dollar pro Jahr

Die Möglichkeiten für ein Mädchen, ein gutes Auskommen zu haben, wird nicht nur durch den Geburtsort und die familiäre Stellung bestimmt. Hinzu kommen Nachteile aufgrund ihres Geschlechts. Schon in den Ländern der OECD arbeiten Frauen täglich im Schnitt länger als Männer. 55 Prozent dieser Arbeit ist unbezahlte Pflege- und Sorgearbeit – also Waschen, Kochen sowie die Pflege älterer und das Aufziehen jüngerer Menschen.

In Ländern des globalen Südens ist es viel krasser: Eine Oxfam-Studie in ländlichen Gegenden in Kolumbien, den Philippinen, Äthiopien, Uganda und Zimbabwe zeigt, dass Frauen im Durchschnitt 14 Stunden am Tag mit unbezahlter Sorgearbeit verbringen. Es sind vor allem Frauen, die dafür sorgen, dass allmorgendlich Abermillionen Arbeitende sauber gekleidet und wohlgenährt zur Arbeit kommen. Der Umfang dieser gigantischen Subvention von Frauen an die Wirtschaft weist einen geschätzten Umfang von rund 10 Billionen US-Dollar auf – pro Jahr!

Was ist der Frauen Lohn? Unser diesjähriger Bericht zur globalen Ungleichheit zeigt, Frauen erhalten im globalen Durchschnitt um 23 Prozent niedrigere Löhne als Männer, in Deutschland sind es 21 Prozent. Frauen arbeiten häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen als Männer und werden für eine geringere Wochenarbeitszeit entlohnt. Insbesondere Mütter von Kindern unter 18 Jahren sind häufig von Armut betroffen. Wenn Frauen in Rente gehen, erhalten sie seltener und niedrigere Renten als Männer. Letztere besitzen hingegen 50 Prozent mehr vom globalen Vermögen als Frauen; zudem werden 86 Prozent aller Unternehmen von Männern geführt. In zahlreichen Ländern verwehren diskriminierende Regeln Frauen den Zugang zu Land, Eigentum und Erbe. Kein Wunder also, dass 9 von 10 Milliardär*innen ebenfalls männlichen Geschlechts sind.

Ist das gerecht? Nein, das ist es nicht. 

Wir leben auf Kosten anderer

Durch ihren expansiven Lebensstil verantworten die Reichsten dieser Welt einen Großteil der klimaschädlichen Emissionen. Zugleich sind sie vor möglichen Naturkatastrophen besonders gut geschützt – dank besserer Infrastruktur, Versicherungen gegen Ernteverluste, Schäden an ihren Immobilien sowie durch Dämme gegen Hochwasser. Im globalen Vergleich gehört die Mehrzahl der Deutschen zu den Reichen dieser Welt. Würden alle Menschen ähnlich leben, konsumieren und reisen wie der/die durchschnittliche Deutsche, so hätten wir bereits am 2. Mai eines Jahres so viele Ressourcen verbraucht, wie die Erde pro Jahr regenerieren kann. Unser Lebensstil eignet sich nicht als Vorbild für den Rest der Welt, er würde diese unweigerlich zerstören, schon jetzt leben wir auf Kosten anderer.

Die bereits deutlich spürbaren Auswirkungen des Klimawandels – etwa die wachsende Zahl der Unwetter, Dürren und Überschwemmungen – sind hingegen für Menschen in Armut besonders dramatisch. Zugleich sind sie häufiger von diesen betroffen:

Ihre Lebensgrundlagen und Einkommen sind zumeist von intakten Ökosystemen abhängig, beispielsweise in der Landwirtschaft. Ärmere Bevölkerungsgruppen können sich gleichzeitig kaum an Klimaveränderungen anpassen oder sich vor ihnen schützen. So verschärft die Klimakrise ausgerechnet die Lage jener Menschen, die ohnehin bereits mit dem  Existenzminimum auskommen müssen.

Kopf in den Sand? Nein, wir können und müssen es ändern!

Nun mögen manche erneut sagen: Dies ist nicht gerecht.

Doch sie sagen vielleicht auch: Ich kann diese Ungerechtigkeit aber nicht beseitigen. Und es liegt auch gar nicht in meiner Verantwortung.

Das ist nicht richtig: Wir können es ändern, und wir müssen es ändern! Es ist sowohl unsere Verantwortung als auch in unser aller Interesse! Wir alle gestalten das Miteinander in unserer Gesellschaft – national wie global – durch unseren Umgang miteinander. In zufälligen und bewusst herbeigeführten Begegnungen, durch unser Handeln im Alltag, beim Einkaufen, auf Reisen und nicht zuletzt durch unsere Wahlentscheidungen und unser zivilgesellschaftliches Engagement – oder dessen Ausbleiben.

Die Strukturen, die Armut und Ungleichheit schaffen und vertiefen, sind keine kosmischen Kräfte, denen wir willenlos ausgeliefert sind. Vielmehr gehen diese Strukturen zum allergrößten Teil auf politische Entscheidungen zurück, die von Menschen getroffen wurden – die jedoch nicht in Stein gemeißelt sind.

Staaten und deren Regierungen müssen ihrer Verantwortung gerecht werden. Werden politische Entscheidungen nicht mit Blick auf Profit, sondern auf die Bedürfnisse von Menschen und die begrenzten Ressourcen dieser Erde getroffen, ist ein Wandel möglich. Beispiele dafür gibt es genug: Die Kindersterblichkeit ist in der Vergangenheit stark gesunken, etwa weil es weniger Unterernährung gab, sich die Versorgung mit sauberem Trinkwasser verbessert hat, mehr Mediziner*innen und Hebammen ausgebildet sowie Medikamente und Impfstoffe zugänglicher gemacht wurden.

Auch ist die Anzahl von Menschen, die in extremer Armut leben, zurückgegangen – von 1.895 Millionen Menschen im Jahr 1990 auf 736 Millionen Menschen im Jahr 2015, so die Weltbank. Das ist ohne Zweifel zunächst eine gute Nachricht! Fest steht jedoch: In diesem Zeitraum ist die globale Wirtschaft sehr viel stärker gewachsen, als die Armut zurückgegangen ist.

Im Jahr 1990 hätte es 10,5 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung bedurft, um jede und jeden über die Armutsschwelle von 1,90 US-Dollar zu heben. Im Jahr 2013 lagen die Kosten nur noch bei 3,3 Prozent, so der Anthropologe Jason Hickel. Unsere Fähigkeit, Armut zu beenden, ist gewachsen. Wir haben sie jedoch unzureichend genutzt.

Hinzu kommt: Es leben noch immer viel zu viele Menschen in extremer Armut. 3,4 Milliarden Menschen – fast die Hälfte der Weltbevölkerung! – müssen mit 5,50 US-Dollar pro Person und Tag auskommen. Sie leben damit zwar nicht in extremer, aber weiterhin in Armut – und sind von einem guten Leben weit entfernt.

All dies zeigt: In einer Welt, in der es unglaublich viel Reichtum gibt, bleiben wir noch immer weit hinter unseren Möglichkeiten zurück. Wir lassen Millionen Menschen im Stich, obwohl wir in der Lage wären, ihre Situation zu ändern.

Bereits kleine Weichenstellungen könnten Großes bewirken

Unsere Berechnungen haben ergeben: Es bedarf nur einer Vermögenssteuer von gerade einmal 0,5 Prozent auf die Vermögen des reichsten einen Prozents eines jeden Landes, um – wenn die Gelder für Finanzierungslücken in den betreffenden Bereichen eingesetzt würden – jährlich 3,3 Millionen Menschen durch die Bereitstellung einer medizinischen Grundversorgung das Leben zu retten und zugleich 262 Millionen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Und nur 0,23 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung wären erforderlich, um den Ärmsten dieser Welt ein Mindestmaß an sozialer Sicherung zu gewährleisten, so die ILO.

Derzeit aber liegen geschätzte 10 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung in Steueroasen! Auf diese Weise entgehen allein den Entwicklungsländern jedes Jahr Einnahmen in Höhe von 170 Milliarden US-Dollar. Gelder, die diese Staaten für ihre Entwicklung und ihre Bevölkerungen einsetzen könnten.

Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung für alle – dies ist in unserer Welt des Überflusses nicht nur möglich, sondern auch eine moralische Pflicht! Das Ausbleiben dieses Mindestmaßes an Gerechtigkeit ist ein politischer Skandal.

Ein gutes Leben für alle

Zugleich können wir bei einem Mindestmaß nicht stehenbleiben: Sollte es nicht unser aller Ziel sein, dass niemand mehr befürchten muss, in der hochgradig ungerechten Lotterie des Lebens in einem armen Land, mit einem benachteiligten Geschlecht oder in eine diskriminierten Gruppe hineingeboren zu werden? Folgt daraus nicht – und aus der Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen – die Forderung nach einem guten Leben für alle?

Wenn wir aber nach globaler sozialer Gerechtigkeit streben, dann müssen wir die sozialen, die ökologischen und die demokratischen Herausforderungen gemeinsam bewältigen und für Chancen-, Verteilungs- und Beteiligungsgerechtigkeit kämpfen – hierzulande, in Europa und in der ganzen Welt.

Machen Sie einen Anfang: Fordern Sie mit uns die deutschen Spitzenkandidat*innen der Europawahl am 26. Mai 2019 auf, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen!

Jetzt mitmachen

Wir freuen uns über anregende Diskussionen, sachliche Kritik und eine freundliche Interaktion.

Bitte achten Sie auf einen respektvollen Umgangston. Auch wenn Sie unter einem Pseudonym schreiben sollten, äußern Sie bitte dennoch keine Dinge, hinter denen Sie nicht auch mit Ihrem Namen stehen könnten. In den Kommentaren soll jede*r frei seine Meinung äußern dürfen. Doch es gibt Grenzen, deren Überschreitung wir nicht dulden. Dazu gehören alle rassistischen, rechtsradikalen oder sexistischen Bemerkungen. Auch die Diffamierung von Minderheiten und Randgruppen akzeptieren wir nicht. Zudem darf kein*e Artikelautor*in oder andere*r Kommentator*in persönlich beleidigt oder bloßgestellt werden.

Bitte bedenken Sie, dass Beleidigungen und Tatsachenbehauptungen auch justiziabel sein können. Spam-Meldungen und werbliche Einträge werden entfernt.

Die Verantwortung für die eingestellten Kommentare sowie mögliche Konsequenzen tragen die Kommentator*innen selbst.