Nach der Revolution in Tunesien besetzte Aichucha Ben Hsine einen Posten im Komitee für soziale Angelegenheiten in ihrer Kommune Midoun auf Djerba. Als Quotenfrau. Anfang 2014 reichte sie ihre Kündigung ein: Sie wollte nicht länger die „Marionette der Entscheidungsträger“ sein. Die vor allem männlich waren.

Auch heute, sechs Jahre nach der Revolution, ist Politik in Tunesien noch immer hauptsächlich Männersache. Dank eines Gesetzes, das bei Wahlen eine ausgewogene Verteilung von Listenplätzen zwischen Männern und Frauen vorschreibt, sind zwar immerhin 30 Prozent der Parlamentarier/innen Frauen. Doch von 26 Ministerposten besetzen Frauen nur fünf. Auf lokaler Ebene haben Frauen noch weniger Einfluss. Es gibt nur eine einzige Gouverneurin und lediglich neun von 114 Distriktvorständen sind Frauen.

Oxfams Partnerorganisation LET (französisch für Liga der tunesischen Wählerinnen) klärt Bürgerinnen über ihre politischen Rechte, über Menschenrechte und die Gesetzgebung in Tunesien, auf und unterstützt Frauen gezielt dabei, einen Weg in die Politik zu finden. Gerade im konservativen Süden Tunesiens, in dem LET derzeit arbeitet, herrschen noch sehr traditionelle Ansichten über die Rollen von Frauen und Männern. 40 Prozent der Menschen sprechen sich dagegen aus, dass Frauen an der Politik teilhaben sollten.

LET schult 50 Frauen für Zivilgesellschaft und Wahlen

„Die Wahrung unserer Menschenrechte kann aber nur garantiert werden, wenn Frauen eine aktive Rolle in der Politik einnehmen, zur Wahl gehen und die Gesetzestexte kennen“, sagt Besma Soudani, die Gründerin und Präsidentin von LET. Bei LET spielt die Parteizugehörigkeit der Frauen keine Rolle, demokratische Prozesse an sich sollen gefördert werden. Zudem ist die Organisation für die Wahlbeobachtung registriert und veröffentlicht Analysen zur Ausgewogenheit der Geschlechter auf Landesebene.

Aichucha Ben Hsine wurde von LET gecoacht.
Aichucha Ben Hsine wurde von LET gecoacht. Sie kanditiert bei den Wahlen ganz oben auf der Wahlliste ihrer Partei.

Seit Anfang 2016 bereitet LET rund 50 Frauen auf eine aktive zivilgesellschaftliche Rolle und auf die Kommunalwahlen vor. Zu diesen Frauen gehört auch Aichucha Ben Hsine, die Anfang 2014 das politische Handtuch geworfen hatte, weil sie nicht Marionette der männlichen Entscheidungsträger sein wollte. Bei LET erhält sie nun zusammen mit den anderen Frauen in zahlreichen Fortbildungen fundierte Kenntnisse über die politischen Prozesse, die Gesetzgebung und über Menschenrechte. Besonders wichtig ist LET, das Selbstbewusstsein der Teilnehmerinnen zu stärken. Für Frauen, die sich gewöhnlich im Hintergrund halten und bei Versammlungen kaum das Wort ergreifen, ist das eine wichtige Unterstützung.

Auch ein professionelles Kommunikationstraining gehört zu den Fortbildungen. So unterstützen Coaches die Frauen bei der Planung von Bürgersprechstunden. In den Bürgersprechstunden tragen Bürger/innen ihre Anliegen an die Frauen heran, zum Beispiel zu Themen wie Müllbeseitigung, Kitaplätzen, Infrastruktur oder Gesundheitszentren. Die geschulten Frauen wiederum fordern, bei den Entscheidungsträgern ein, sich um die Anliegen der Bürger/innen zu kümmern. Zudem geben sie viel von ihrem Wissen, zum Beispiel über politische Rechte, gezielt an Bürger/innen weiter.

Fundiertes politisches Wissen und Selbstbewusstsein

Bei den nun anstehenden Kommunalwahlen treten 24 durch LET geschulte Frauen an. Auch im Vorlauf der Parlamentswahlen im Jahr 2014 betreute LET 23 Kandidatinnen: Acht von ihnen haben es ins Parlament geschafft. Jetzt verfolgen die Organisatorinnen gespannt, wie erfolgreich die von ihnen geschulten Frauen bei den Kommunalwahlen sein werden.

Auch Aichucha Ben Hsine wird antreten – LET-geschult und als Listenführerin ihrer Partei. „Ich bin heute bereit dafür, ein neues Amt in meiner Kommune zu bekleiden. Früher wurde ich in den Diskussionen entweder komplett ignoriert oder angegriffen. Heute kenne ich die Gesetzestexte und meine Rechte und berufe mich auf sie. In den Kursen und beim Coaching von LET habe ich gelernt, methodischer vorzugehen. Seitdem werde ich ernst genommen, und das hat definitiv auch mein Selbstvertrauen gestärkt.“

 

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Herbstausgabe der EINS.

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