Bei der bevorstehenden Sitzung des Europäischen Rates werden die Verantwortlichen der Europäischen Union (EU) über den Vorschlag der Europäischen Kommission für einen neuen Partnerschaftsrahmen mit Drittländern beraten. Der Vorschlag beinhaltet einen Ansatz, bei dem bestehende externe Kooperationsinstrumente der EU und ihrer Mitgliedsstaaten zur Begrenzung von Migration nach Europa eingesetzt werden sollen. Die hier unterzeichnenden 124 Organisationen haben schwere Bedenken gegen die aktuelle Ausrichtung der EU-Beziehungen mit Drittstaaten auf Abschreckung und Abschiebung. Generell droht der neue Partnerschaftsrahmen den Schwenk der EU-Außenpolitik hin zur Verhinderung von Migration zu verfestigen – mit der Folge, dass Europas Glaubwürdigkeit und Einfluss bei der Verteidigung grundlegender Werte und Menschenrechte erheblich leiden würde.
Der Kommissionsvorschlag ist stark an das jüngste EU-Türkei-Abkommen angelehnt, das als erfolgreiches Kooperationsmodell angepriesen worden ist, tatsächlich aber dazu geführt hat, dass Tausende von Menschen in Griechenland unter entwürdigenden und menschenverachtenden Bedingungen festsitzen. Am schlimmsten betroffen sind dabei Kinder – Hunderte unbegleitete Minderjährige werden derzeit auf griechischen Inseln in haftähnlichen Einrichtungen festgehalten oder müssen auf dem Festland in Arrestzellen nächtigen. Die Auswirkungen dieses Zustands dürfen nicht unterschätzt werden, denn es ist völlig unglaubwürdig, wenn Europa Partnerstaaten auffordert, ihre Türen für immer mehr Flüchtlinge offen zu halten und deren Weiterreise zu unterbinden und sich gleichzeitig EU-Mitgliedsstaaten weigern, einen gerechten Teil der kollektiven Verantwortung zum Schutz von Flüchtlingen zu übernehmen. Das Recht auf Asyl wird dadurch erheblich untergraben und für Zivilpersonen in Kampf- und Kriegsgebieten wird es immer schwieriger, internationalen Schutz zu erhalten.
Der Kommissionsvorschlag ignoriert sämtliche Belege der Unwirksamkeit von Abschreckungsmaßnahmen gegen Migration. Dieser Ansatz ist nicht nur untauglich, das „Geschäftsmodell“ von Menschenschleusern unwirksam zu machen, sondern wird im Gegenteil menschliches Leid vergrößern, da viele Menschen gezwungen sein werden, noch gefährlichere Fluchtwege zu nehmen. Außerdem sind trotz des im Vorschlag enthaltenen Bekenntnisses zur Nichtzurückweisung (Non-Refoulement) keinerlei Vorkehrungen geplant, um Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeitsprinzipien und Schutzmechanismen zu garantieren. Pflicht und Verantwortlichkeit zur Wahrung der Menschenrechte enden nicht an Europas Grenzen.
Wir sind darüber enttäuscht, dass einmal mehr die Schwerpunktsetzung auf Abschreckung die Eröffnung von sicheren und regulären Zugangswegen für schutzbedürftige und für andere Migranten nach Europa – etwa durch Umsiedlungs- und humanitäre Aufnahmeprogramme, Familienzusammenführung, Ausbildungsvisa, Arbeitsmigration und Visumsliberalisierungen – in den Hintergrund rückt. Umsiedlung, Arbeitsmigration und Visumsliberalisierung sind lediglich im Sinne von möglichen Gegenleistungen für Partnerländer genannt.
Eine weitere zentrale Kritik betrifft die Finanzierung des vorgeschlagenen Partnerschaftsrahmens, da sie eine grundlegende Neuorientierung der europäischen Entwicklungspolitik in Richtung Verhinderung von Migration bedeuten würde. Dies ist ein inakzeptabler Widerspruch zu der im Vertrag von Lissabon enthaltenen Verpflichtung, Entwicklungszusammenarbeit (EZ) auf Armutsbekämpfung auszurichten. Entwicklungshilfe muss notleidenden Menschen dienen und darf nicht als Instrument zur Migrationskontrolle eingesetzt werden. Die EU-Entwicklungsfinanzierung sollte transparent sein und fest verankerten Prinzipien wie den Busan-Prinzipien zur Wirksamkeit der EZ und den Pariser Prinzipien zur Ausrichtung auf EZ-Strategien der Partnerländer und deren Identifikation mit den betreffenden Maßnahmen folgen. Dazu kommt, dass der Abschluss von Abkommen zum „Migrationsmanagement“ mit Ländern, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen vorkommen, langfristig kontraproduktiv ist, weil dadurch weltweit Menschenrechte untergraben und Misshandlungen und Unterdrückung verfestigt werden, was wiederum zahlreiche Menschen zur Flucht zwingt.
Migration hat viele Ursachen. Viele Menschen machen sich auf der Suche nach neuen Existenzgrundlagen, Ausbildung oder Familienzusammenführung auf den Weg. Darüber hinaus können Gewalt und bewaffnete Konflikte, Menschenrechtsverletzungen, Klimawandel, Armut und Arbeitslosigkeit zu Migration und Zwangsvertreibungen führen. Alle Ansätze zur Gestaltung von Migration müssen diese komplexe und vielschichtige Realität berücksichtigen sowie evidenzbasiert und bedarfsorientiert sein. Sie müssen darüber hinaus den Nutzen von Migration maximieren sowie ihre Risiken und Gefahren verringern.
Wenn die EU zu mehr weltweiter Solidarität aufrufen möchte, muss sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Die EU, einst auf den Trümmern eines verheerenden Krieges errichtet, befindet sich auf einem bedenklichen Kurs, der sie weg von ihren ursprünglichen Werten führt. Wir rufen die Verantwortlichen in der EU und ihren Mitgliedsstaaten dazu auf, sich für ein rechtsbasiertes System zum Umgang mit Migration zu entscheiden. Dieses muss auf einer langfristigen strategischen Vision gegründet sein und darf nicht einer ebenso unrealistischen wie unmenschlichen Abschreckungslogik folgen – andernfalls wird die EU ihre Gründungsprinzipien verraten.
Als Organisationen aus den Bereichen Menschenrechte, humanitäre Hilfe, Medizin, Migration und Entwicklungszusammenarbeit sowie als wichtige Durchführungspartner von Entwicklungszusammenarbeit in Drittländern, fordern wir die europäischen Staats- und Regierungschefs auf:
- den aktuellen Kommissionsvorschlag zu verwerfen und eine nachhaltige, langfristige und auf Tatsachen basierte Strategie für die Gestaltung Migration zu entwickeln und dabei die Zivilgesellschaft und Fachleute einzubeziehen;
- sichere Mobilität zu unterstützen, indem für schutzbedürftige Personen und andere Migranten sichere und reguläre Zugangswege nach Europa eröffnet und weiter ausgebaut werden – wie z.B. Umsiedlungs- und humanitäre Aufnahmeprogramme, humanitäre Visa, Familienzusammenführung, Arbeitsmigration für unterschiedlich Qualifizierte und Studentenvisa. Die Mitgliedsstaaten müssen sich dabei zu klaren Richtwerten und angemessenen Zeitfristen zur Umsetzung eines Rahmenplans für Migration bekennen, der sowohl den Bedürfnissen von Migrant/innen, Asylsuchenden und Flüchtlingen und ihren Familien als auch dem Bedarf und den Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten gerecht wird;
- Entwicklungszusammenarbeit mit keinerlei Konditionalität zu verbinden, die auf Indikatoren zur Migrationskontrolle basiert. Entwicklungszusammenarbeit ist ein Instrument zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, nicht zum Migrationsmanagement. Vulnerable Bevölkerungsgruppen dürfen nicht unter vorrangig politisch motivierten Absichten leiden;
- Rückführungen und Abschiebungen von Menschen aus der EU in Drittländer zu unterlassen, die gegen Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit verstoßen, einschließlich der Beachtung des Prinzips des Non-Refoulements. Personen in Migrations- und Asylverfahren muss Zugang zu Schutz, Recht und entsprechendem Beistand gewährt werden;
- zu gewährleisten, dass jegliche Instrumente zum Migrationsmanagement transparent sind und eine Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen beinhalten, die aus migrationspolitischen Maßnahmen der EU resultieren;
- eine Außenpolitik zu proklamieren und umzusetzen, die auf die Verhütung und Beendigung von langwierigen Krisen gerichtet ist. Zwar nennt der Kommissionsvorschlag die Notwendigkeit, Fluchtursachen langfristig zu bekämpfen, enthält aber keine Maßnahmen, um Krisen vorzubeugen und zu beenden.
Unterzeichnende Organisationen
- 11.11.11
- ACT Alliance EU
- Action Contre la Faim (ACF)
- ActionAid
- Aditus Foundation
- Afrique Culture Maroc
- Agir Ensemble pour les Droits de l'Homme
- Aid Services
- Amnesty International
- Amycos
- Andalucía Acoge
- Asamblea de Cooperacion Por la Paz ACPP
- Asgi - Associazione per gli Studi Giuridici sull'Immigrazione
- Asociacion por ti mujer
- Asociacion Salud y Familia - Spain
- Association for action against violence and trafficking in human beings-Open Gate La Strada Macedonia.
- Association for the Social Support of Youth
- Ayuda en Acción
- Bienvenidos Refugiados España
- British Refugee Council
- CAFOD
- Care International
- Caritas International Belgium
- CCOO de Andalucía
- Centre for Youths Integrated Development.
- Centro de Investigaciones en Derechos Humanos PRO IGUAL
- ChildFund Alliance
- Church of Sweden
- Churches’ Commission for Migrants in Europe
- Citizens’ association for combating trafficking in human beings and all forms of gender-based violence
- CNCD-11.11.11
- Comisión Española de Ayuda al Refugiado –CEAR-
- Concern Worldwide
- CONCORD Europe
- CONCORD Sweden
- Conseil des Béninois de France
- Consortium of Migrants Assisting Organizations in the Czech Republic
- Coordinadora Andaluza de ONGD
- Coordinadora Cantabra de ONGD
- Coordinadora de Barrios
- Coordinadora de ONGD de la Región de Murcia
- Coordinadora de ONGD del Principado de Asturias
- Coordinadora de ONGD España
- Coordinadora de ONGD Navarra
- Coordinadora Extremeña de ONGD
- Coordinadora Gallega de ONGD
- Coordinadora ONGD de Castilla y León
- Coordinadora Valenciana de ONGD
- Coordination des ONG pour les droits d'enfant
- Cordaid
- Detention Action
- Detention Forum
- Doctors of the World International network
- Emergency Ong Onlus
- EU-CORD Network
- Eurochild
- EuroMed Rights
- European Association for the Defence of Human Rights
- European Council on Refugees and Exiles
- European Youth Forum
- Federación Aragonesa de ONGD
- Federación de Asociaciones de Derechos Humanos
- Federation of Christian NGOs in Italy
- FIACAT
- FIDH
- FIZ advocacy and support for migrant women and victims of trafficking
- Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
- Forum des Organisations de Solidarité Internationale issues des Migrations
- Fundacion 1º de Mayo de Comisiones Obreras
- Fundación Alianza por los Derechos, la Igualdad y la Solidaridad Internacional – APS
- Greek Forum of Refugees
- Habitat for Humanity International, Europe, Middle East and Africa
- Handicap International
- Hellenic Platform for Development
- Human Rights Watch
- Human Rights Without Frontiers
- Humanist Institute for Co-operation with Developing Countries
- Inspiraction
- Instituto Sindical de Cooperación al Desarrollo – ISCOD
- InteRed
- INTERSOS
- Islamic Relief UK
- Jesuit Refugee Service Europe.
- Justice and Peace Netherlands
- KISA-Action for Equality, Support, Antiracism
- Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission
- La Strada International
- Lafede.cat - Organitzacions per a la Justícia Global
- Le Monde des Possibles
- Lebanon Humanitarian INGO Forum
- Macedonian Young Lawyers Association
- Médecins Sans Frontières
- Menedék - Hungarian Association for Migrants
- Migrant Voice UK
- Migrants' Rights Network
- Movimiento contra la Intolerancia
- Movimiento por la Paz –MPDL-
- Nasc, the Irish Immigrant Support Centre
- Norwegian Refugee Council
- Oxfam
- PAX
- Pax Christi International
- PICUM-Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants
- Plan International EU office
- Platform Minors in exile / Plate-forme Mineurs en exil / Platform Kinderen op de vlucht (Belgium)
- PRO ASYL
- Red Acoge
- Refugee Aid Serbia
- Réseau de Compétences Solidaires – Groupement d'Economie Sociale et Solidaire France - Europe - Afrique
- Réseau Immigration Développement Démocratie – IDD
- Save the Children
- SOS Children’s Villages International
- SOS Racisme – Touche pas à mon pote
- Stichting LOS
- Swedish Refugee Advice Centre
- Télécoms Sans Frontières
- Terre des Hommes International Federation
- The International Federation of Social Workers European Region
- The International Rehabilitation Council for Torture victims
- The Norwegian Centre Against Racism
- Translators without Borders
- Trócaire
- World Vision Brussels and EU Representation
- ZOA