Die besten Lösungen sind oft die naheliegendsten – bei Vorsorge und Nothilfe bei Katastrophen gilt das im wörtlichen Sinn: Oxfam präsentiert auf dem diesjährigen – virtuell stattfindenden – Humanitären Kongress Berlin wegweisende Ansätze zur Lokalisierung in der humanitären Hilfe. Was das in der Praxis bedeutet, zeigt das folgende Beispiel aus Bangladesch, bei dem Menschen in lokalen Gemeinschaften selbst bestimmen, wie sie Notlagen am wirkungsvollsten meistern können. Oxfam und nationale Partnerorganisationen unterstützen sie dabei.

Das Konzept Lebensmittelbank

Borangile liegt auf einer Flussinsel im Norden von Bangladesch, wo der Klimawandel das Leben der Farmer*innen besonders hart getroffen hat. Regelmäßig zerstören Fluten und starke Zyklonen die Ernten, gleichzeitig bleiben entsprechende Hilfeleistungen seitens der Regierung aus. Eine Gruppe von Frauen hat daher bereits 2018 einen Plan geschmiedet: Eine Handvoll Reis von jedem Essen übrig behalten und für schlechte Zeiten aufheben.

Innerhalb eines Monats konnte sich mit dieser einfachen Methode jede teilnehmende Frau ein Kilogramm Reis für schlechte Zeiten zur Seite legen. Zehn Frauen sparten bereits zehn Kilogramm, vierzig Frauen insgesamt vierzig Kilogramm Reis an: Nach einigen Monaten würde die Rechnung aufgehen und sie hätten genug im Rückhalt, um die nächste Hungersnot abfangen zu können. So riefen die Frauen – mithilfe einer kleinen Portion Reis und sehr viel Solidarität – eine Lebensmittelbank ins Leben.

Physisch besteht die Lebensmittelbank aus einem Haus, einem Lagerplatz, einem Kassenbuch und einer Reihe von Waagen. Die Frauen lagern dort Reis, wenn sie gerade viel davon übrig haben. Und an schlechten Tagen bedienen sie sich an den Vorräten.

Lebensmittel oder Geld in schwierigen Zeiten zu leihen, ist nichts Neues für diese Familien. Das Neue an diesem Konzept ist, dass die Leihgaben nicht verzinst sind und sie selbst ihre Unabhängigkeit und Würde behalten können. Diese Bank ist für niemanden Gewinn bringend – außer für sie selbst.

Eine Frau guckt in die Kamera und hält uns eine Schüssel mit Reiskörnern entgegen
Tahamina hinterlegt ein Kilo Reis in der Lebensmittelbank ihrer Gemeinschaft in Katlamari (Bangladesch)

„Wir kennen die Menschen“

Oxfam unterstützt die erfolgreiche Initiative gemeinsam mit unseren Partner*innen und hilft dabei, das Konzept auf andere lokale Gemeinschaften zu übertragen. Im nahegelegenen Distrikt Gaibandha haben Gemeinschaften mit der Unterstützung unserer lokalen Partnerorganisation, der SKS Foundation, zum Beispiel bereits zwölf Lebensmittelbanken gegründet.

„Wir haben die Frauen dabei unterstützt, notwenige Ausstattung zu kaufen und ein Bankkonto zu eröffnen“, so der Koordinator Baharam Khan. „Und wir haben sie darin geschult, wie ein Kassenbuch richtig geführt wird.“

Die SKS Foundation ist eine Entwicklungsorganisation, die ihren Sitz im Norden Bangladeschs hat und ihren Fokus auf die Stärkung besonders schutzbedürftiger und marginalisierter Bevölkerungsgruppen legt. Oxfam unterstützt die Organisation dabei, ihre Kompetenzen im Bereich der humanitären Hilfe zu optimieren, sodass die Gemeinschaften, die von Krisen wie der aktuellen COVID-19-Pandemie stark betroffen sind, direkt von lokalen Unterstützungsleistungen profitieren können.

Die meisten Angestellten der SKS wohnen in der Nähe der betroffenen Siedlungen, so Khan. Wenn es um Engagement, Beziehungen vor Ort, Vertrauen und Ortkenntnisse geht, kann das einen großen Unterschied machen.

Er formuliert es so: „Wir kennen die Menschen und die Menschen kennen die SKS.“

Die SKS und zwölf andere Organisationen – allesamt Mitglieder der Klima-Anpassungsinitiative REECALL – haben die Gemeinschaften dabei unterstützt, 275 Lebensmittelbanken in Gebieten einzurichten, in denen Oxfam aktiv ist. Von diesem Projekt profitieren insgesamt rund 30.000 Menschen.

Das Geld, das für die Anschaffung von Lagerplätzen, Waagen, Gebäuden und einfacher Innenausstattung genutzt wurde, umfasst dabei grade einmal 20.000 Taka (weniger als 250 US-Dollar) für jede Gemeinschaft – dennoch reicht das Ergebnis dieser Investition ins Unermessliche.

Die beste Initiative

„Jede einzelne Familie in diesem Dorf ist von Armut betroffen“, so Mosammat Rabeya Begum, die Präsidentin der Lebensmittelbank im Dorf Katlamari. „Jedes Jahr arbeiten wir sechs Monate lang und den Rest des Jahres finden wir aufgrund von Fluten und anderen Katastrophen keine Arbeit. In diesen Zeiten sind wir akuten Lebensmittel- und Ernährungskrisen ausgesetzt.“ Doch jetzt werden sie durch die Lebensmittelbanken unterstützt: „Durch den gelagerten Reis müssen wir nicht mehr um Hilfe von anderen bitten.“

„Die Lebensmittelbanken haben uns eine Menge gebracht“, sagt Layli Begum*, die in demselben Dorf wohnt. „Es ist besser von der Lebensmittelbank zu leihen, als von anderen Personen, weil die Lebensmittel dort nicht verzinst sind.“

Die Frauen finden außerdem, dass das Verfügen über eigene Lebensmittelressourcen auf eine andere Weise ihre Armut abmildert: „Normalerweise mussten wir Leihgaben von unseren Nachbarn annehmen“, sagt Shapna Begum aus dem Dorf Saghatta. „Sie haben uns wegen unserer Armut verspottet. Aber dank der Lebensmittelbanken sind wir nicht mehr auf Leihgaben angewiesen.“

Eine Frau wiegt Reis mithilfe einer Schale, eine zweite Frau sitzt neben ihr
Shapna wiegt den abgegebenen Reis in der Lebensmittelbank

Lebensmittelbanken gegen COVID-19

Anfang 2020 allerdings – als das Konzept der Lebensmittelbanken bereits in vollem Umfang angelaufen war (keinen Moment zu früh) – traf die COVID-19-Pandemie auch die Gemeinschaften in Bangladesch. Und der Zyklon Amphan tat sein Übriges: Zahlreiche Tagesarbeiter*innen verloren ihre Jobs aufgrund des Lockdowns. Gleichzeitig zerstörten die Fluten Felder, von denen viele Menschen zum Erhalt ihres Lebensunterhalts abhängig sind.

„Alle von uns sind auf die Landwirtschaft angewiesen und dieser vorzeitige Regenfall hat unsere Felder zerstört“, so Mosammat Rupali Begum aus dem Dorf Tengrakandi. „Unsere Männer arbeiten außerhalb des Dorfes und verdienen dort Geld, aber wegen der Pandemie dürfen sie ihre Häuser nicht verlassen. Deshalb haben wir keine täglichen Mahlzeiten mehr.“

Aber jetzt gibt es wenigstens die Lebensmittelbanken: „Wann immer wir keinen Reis mehr im Haushalt haben, können wir welchen von der Lebensmittelbank leihen.“

„Die Lebensmittelbanken waren die beste Initiative für diese Gegend“, findet auch Rabeya. „Ich freue mich darauf, dieser Initiative beim Wachsen zuzugucken. Selbst wenn wir nicht mehr am Leben sind, hoffe ich, dass unsere Kinder noch von den Lebensmittelbanken profitieren können.“

Und sie fügt noch hinzu: „Wir haben Träume.“

Übersetzt aus dem Englischen

Lokalisierung der Nothilfe in Bangladesch

Oxfam hat überall in Bangladesch lokale Partnerorganisationen dabei unterstützt, nachhaltige, lokal geleitete humanitäre Hilfsleistungssysteme zu errichten, die an die Bedürfnisse und Anliegen der Gemeinschaften angepasst sind. Die SKS Foundation war eine von 56 bangladeschischen Organisationen, die an dem dreijährigen Projekt ELNHA (Empowering Local & National Humanitarian Project) teilnahmen, dessen Fokus auf dem Erlernen von Kompetenzen und Führungsqualitäten lag. Jetzt sind viele der teilnehmenden Organisationen in der Lage, Fördermittel zu beantragen und effektive Nothilfe-Pläne zu erarbeiten und durchzuführen. Die Corona-Pandemie, die internationale Hilfsmittellieferungen erschwert, hat uns wieder gezeigt, wie wichtig humanitäre Arbeit unter der Leitung von lokalen Organisationen ist. Deshalb engagiert sich Oxfam in diesem Jahr auch als Mitveranstalter des Humanitären Kongresses in Berlin (26.–30.10.2020) und präsentiert dort unter anderem die Arbeit zur Lokalisierung in der Nothilfe.

*„Begum“ ist ein weiblicher Ehrentitel und bedeutet nicht, dass die entsprechenden Frauen in dieser Geschichte miteinander verwandt sind.

2 Kommentare

eine großartige Initiative. Eine Idee, die von den Betroffenen selbst kommt ist das Beste.

Super diese Initiative in Bangladesch. Gemeinsame Selbsthilfe ist das Beste. Danke für die Unterstützung durch Oxfam-

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