„Es wird dunkel – kann ich jetzt noch die Abkürzung durch den Park nehmen?“
„Ist es sicher, allein mit diesem Mann zu sein?“
„Ziehe ich besser etwas anderes an?“

Ob bewusst oder unbewusst: Jeden Tag stellen sich Frauen, aber auch queere und Transpersonen, Fragen wie diese. Jede dritte Frau ab 15 Jahren hat laut der Unterorganisation der Vereinten Nationen UN Women schon Gewalt durch ihren Partner oder einen anderen Mann erfahren – manche einmal, andere immer wieder. Verbale Belästigungen sind dabei noch gar nicht eingerechnet. Übergriffe bis hin zu Morden an Frauen und anderen Menschen, die wegen ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Ausrichtung oder beidem diskriminiert werden, sind weltweit grausamer Alltag.

30 Jahre Aktivismus gegen geschlechterbasierte Gewalt

Bereits vor drei Dekaden beschloss eine internationale Gruppe von Feminist*innen, das nicht länger hinzunehmen: Am 25. November 1991, dem in jenem Jahr neu eingeführten internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, starteten sie eine Reihe weltweiter Aktionstage, die sich bis zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember erstreckten.
Jahr für Jahr vereinen seitdem Menschen und Bewegungen 16 Tage lang ihre Kräfte, um gemeinsam gegen geschlechterbasierte Gewalt zu mobilisieren. Mehr als 6.000 Organisationen aus fast allen Ländern der Welt haben sich bereits während dieser Tage engagiert. Das dreißigste Jubiläum der Aktionstage fällt in eine bittere Zeit: In zahlreichen Ländern haben die Corona-Einschränkungen einen sprunghaften Anstieg der häuslichen Gewalt ausgelöst. Die UN prognostiziert, dass es pro drei Monate Lockdown fünfzehn Millionen zusätzliche Fälle geschlechterbasierter Gewalt geben könnte. „Für wie viele Menschen der eigene Partner und das Heim zur Falle werden, lässt sich aber nur erahnen“, erklärt Charlotte Becker, Expertin für Geschlechtergerechtigkeit bei Oxfam International. „Denn während der Lockdowns gab es für viele Frauen keinen unbeobachteten Moment, um die Polizei oder eine Unterstützungs-Hotline anzurufen. Das Haus zu verlassen, um zur Ärztin zu gehen oder bei einer Freundin unterzukommen, war erst recht unmöglich.“

Pandemische Gewalt

Zudem könnte die Pandemie alle Erfolge im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung oder die Zwangsverheiratung von Minderjährigen zunichtemachen. Und schon vor dem COVID-19-Ausbruch wurden in vielen Ländern neue Gesetze erlassen, die Frauen, Mädchen und LGBTQIA+-Personen, also Menschen, die sich nicht mit den Vorstellungen der heterosexuellen Mehrheit identifizieren, diskriminieren.
Aber es gibt auch positive Entwicklungen:

Illustration einer Woman of Color, die sich aus einem Käfig bereit. Um sie herum sind eine Sonne, Schmetterlinge und ein Vodel zu sehen. In der linken oberen Ecke steht "Love is Freedom".
Für die „Enough“-Kampagne in Pakistan entwarf die Designerin Shehzil Malik eine Valentinskarte, die Liebe als Freiheit statt Kontrolle definiert.

So gehört das Ende der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu den 2016 beschlossenen nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen. Unter anderem auf Druck von Oxfam und lokalen Partnerorganisationen wurde auf den Philippinen Anfang September dieses Jahres ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Kinderehen verbietet.

„Die gesetzliche Ebene ist allerdings nur ein Aspekt“, erläutert Charlotte Becker. „Nichts wird sich wirklich ändern, wenn gleichzeitig in den Köpfen alles beim Alten bleibt – oder gar Ideen von vorgestern den Diskurs zurückerobern.“ Laut Befragungen, die Oxfam in Lateinamerika und der Karibik durchgeführt hat, denken beispielsweise mehr als die Hälfte der Frauen und fast zwei Drittel der Männer zwischen 15 und 19, körperliche und sexualisierte Gewalt gegen Frauen durch betrunkene Männer sei „normal“. 45 Prozent der jungen Frauen und 65 Prozent der jungen Männer meinten, dass das „Nein“ einer Frau oft „Ja“ bedeute. Die Gewalt, die solche Vorstellungen bekräftigen, richtet sich umso stärker gegen mehrfach diskriminierte Gruppen. So fallen in Lateinamerika auffällig viele Transpersonen Morden zum Opfer, wobei es sich fast ausschließlich um Trans-Frauen handelt.

Nichts wird sich ändern, wenn wir uns nicht ändern

Auch in Deutschland sind Frauen-, queer- und transfeindliche Mythen sowie populistische Hetze gegen alles, was nicht ins patriarchale Weltbild passt, wieder salonfähig. „Diese Einstellungen tragen dazu bei, dass diskriminierende und entmündigende Regelungen erhalten bleiben, etwa Paragraf 219a StGB, der Ärzt*innen kriminalisiert, die öffentlich über Schwangerschaftsabbrüch informieren. Zwei Gesetzesentwürfe, die Transpersonen mehr Selbstbestimmung über die eigene Identität einräumen sollten, sind erst kürzlich im Bundestag gescheitert“, sagt Charlotte Becker.
„Nach wie vor leben wir in einer Welt, in der Männer mehr Macht haben als Frauen, Weiße privilegierter sind als Schwarze und der Einfluss reicher Einzelpersonen und Unternehmen auf die Politik immer mehr Menschen in die Armut treibt“, so die Oxfam-Expertin weiter. „Nur wenn wir diese angebliche Normalität beständig hinterfragen, können wir die eklatante Ungleichheit überwinden, können wir frauenfeindlichen, homophoben und anderen gewaltfördernden Vorstellungen etwas entgegensetzen.“

Grafik: Seitenansicht von 9 Frauen, die ihre Fäuste in die Luft strecken. Ein arabischer Schriftzug umrahmt sie: "Wir ehren euch, ihr revolutionären Frauen"
Die tunesisch-französiche Illustratorin Noha Habaieb ehrt mit dieser Valentinskarte alle Frauen, die Tag für Tag mit dem Patriarchat zu kämpfen haben.

Das Patriarchat in den Lockdown schicken

Tatsächlich haben zivilgesellschaftliche Bewegungen in den vergangenen Jahren die größten Veränderungen zum Besseren bewirkt, initiiert von Menschen, die patriarchales Unrecht am eigenen Leib erlebt haben. #MeToo hat es geschafft, das Schweigen über sexuelle Gewalt zu brechen und sehr mächtige Männer zur Rechenschaft zu ziehen. In Südamerika brachte #NiUnaMenos Hunderttausende gegen Femizide, also Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts, auf die Straße. Mit ihren weltweiten Aktionen prangern feministische Gruppen Unrecht an und stellen althergebrachte Vorstellungen in Frage, die verhindern, dass fortschrittliche Gesetze Wirkung zeigen. Besonders wichtig sind dabei verbindende Höhepunkte wie die 16 Aktionstage, denen sich Oxfam dieses Jahr mit seiner eigenen internationalen „Enough“-Kampagne anschließt. Gemeinsam mit vielen anderen Organisationen will Oxfam weltweit ein Zeichen setzen.

Oxfams Forderungen

Derzeit suchen Regierungen weltweit nach Wegen, resistenter gegen Pandemien und andere Krisen zu werden. Oxfam fordert, dass Geschlechtergerechtigkeit im Zentrum jedes wirtschaftlichen Wiederaufbaus stehen muss. „Um dies effektiv zu tun, müssen Regierungen bessere, nach Geschlechtern aufgeschlüsselte Daten erheben. Denn im Vordergrund des Denkens und Handelns stehen derzeit immer noch die Belange von Männern“, erklärt Charlotte Becker. „Frauen, queere und Transpersonen werden immer wieder aus dem öffentlichen Diskurs gedrängt. Wie viel Zeit und Energie würde frei, wenn Diskriminierung, Belästigung und Gewalt nicht mehr ein alltäglicher Bestandteil der Lebensrealität von Millionen von Menschen wären? Auf eine Welt, in der ihre Rechte respektiert werden, dürfen wir nicht noch einmal dreißig Jahre warten.

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