Es ist skandalös, dass es so viel Zeit und Leid brauchte, um Europa aufzurütteln

Es regen sich Bürgerproteste gegen die Ignoranz, mit der viele europäische Regierungen den Tausenden verzweifelter Menschen begegnen, die aus ihrer Heimat fliehen müssen. Wie es scheint, brauchte es erst das erschütternde Foto von der Leiche des dreijährigen syrischen Jungen Aylan Kurdi, die vergangene Woche an einen türkischen Strand gespült wurde.

Tausende von Frauen, Kindern und Männern sind in diesem Jahr auf dem Weg nach Europa gestorben. In der vergangenen Woche ertranken mehr als 100 Menschen, als ein Boot kurz nach Verlassen der libyschen Küste kenterte, und in Österreich wurden 71 Leichen in einem Lastwagen gefunden.

Es ist skandalös, dass es so viel Leid brauchte und so lange dauerte, um Europa aufzurütteln. Grund für diese Ignoranz ist ein Gefühl der Angst: Was werden diese Migranten in unsere Gemeinschaften bringen? Wer sind diese "anderen" Menschen?

Entsprechend gibt es in vielen europäischen Ländern lautstarke, aber deplatzierte Meinungen zum Bau von Abwehrzäunen sowie zu Rückführung und wirtschaftliche Nützlichkeit von Migranten.

Eine Tür zu einem sicheren Zufluchtsort

Ich erinnere mich dagegen an ein Gefühl von Menschlichkeit: Im Jahr 1978 flüchtete ich vor der brutalen Diktatur Idi Amins in Uganda über Kenia in das Vereinigte Königreich. Meine Familie und ich wählten Großbritannien, weil wir damals – wie ich heute – wussten, dass dies ein Land mit offenen Türen für Menschen wie mich ist. Ich, das schwarze, 18-jährige afrikanische Flüchtlingsmädchen, erreichte Großbritannien und wurde nicht abgeschoben. Ich erhielt die Chance zu bleiben.

Ich studierte an der Universität Manchester, war später in verschiedenen Ländern tätig und kehrte schließlich nach Großbritannien zurück, um für Oxfam zu arbeiten. Meine Geschichte hätte einen ganz anderen Ausgang nehmen können, wenn mir die Tür zu einem sicheren Zufluchtsort vor vierzig Jahren verschlossen geblieben wäre. Diese Erinnerung ist für mich gerade in diesen Tagen sehr lebendig.

Heute sind wir inmitten einer globalen und komplexen Flucht- und Vertreibungskrise. Diese globale Krise nur durch die Linse Europas zu sehen, führt dazu, das Gesamtbild aus dem Blick zu verlieren. Nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) flohen im Jahr 2014 59,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat – ein Plus von 63 Prozent im Vergleich zu vor zehn Jahren – und die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Großteil der Vertriebenen ist so jung oder jünger als ich es war, als ich aus Uganda nach Großbritannien floh.

 Menschen fliehen vor gewaltsamen Konflikten

Politische Konflikte tragen am stärksten zur erzwungenen Migration bei. Laut UN sind die meisten Menschen, die Europa auf dem Seeweg erreichen, auf der Flucht vor Krieg, Konflikten oder Verfolgung. Die Hälfte von ihnen stammt aus Syrien und Afghanistan.

Kurzfristig müssen die täglichen Bedürfnisse von Geflüchteten befriedigt werden. Hierfür braucht es mehr Geld für die hoffnungslos unterfinanzierten Flüchtlingsprogramme. Während ich dies schreibe, ist der Nothilfeaufruf der Vereinten Nationen zur Krise in Syrien und zur Unterstützung der Nachbarländer für 2015 nur zu gut einem Drittel (37 Prozent) finanziert.

Langfristig ist entscheidend, dass nicht in den Bau von mehr Zäunen und Mauern investiert wird, sondern in nachhaltige Verbesserungen, um die Ursachen von Konflikten, Ungleichheit, Armut und Klimawandel zu bekämpfen.

Wir müssen auch zu einer  faireren Verteilung bei  der Aufnahme von Flüchtlingen kommen.  Entwicklungsländer  beherbergen derzeit 86 Prozent der Flüchtlinge weltweit. Dies rückt die Anzahl der Menschen, die derzeit Zuflucht in Europa suchen in eine etwas größere Perspektive.

Europas Infrastruktur ist nicht in Gefahr auseinander zu fallen, weil in diesem Jahr 340.000 Menschen hier Zuflucht suchten – sie stellen nur rund ein halbes Prozent der EU-Bevölkerung von 500 Millionen dar.

Während Europa sich zu Beginn des Jahres über die Umverteilung von 20.000 Flüchtlingen stritt, hat alleine die Türkei 1,5 Millionen Menschen aufgenommen. Im Libanon besteht heute ein Viertel der Bevölkerung aus Flüchtlingen, die Infrastruktur und das sozioökonomische Gefüge stoßen deshalb an ihre Grenze.

Aus diesem Grund fordert Oxfam eine Verpflichtung der reichen Länder, fünf Prozent der syrischen Flüchtlinge internationalen Schutz zu bieten – etwa 200.000 Menschen.

Wirksame Maßnahmen

Menschen, die vertrieben oder auf der Flucht vor Gewalt und Verfolgung sind, stehen derzeit im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Doch wir sollten deshalb keinesfalls die nachweisliche Not von Arbeitsmigranten ausblenden, die ihr Leben auf der Flucht vor Armut oder Ungleichheit riskieren.

Die EU-Migrationspolitik muss der Rettung von Leben und dem Schutz von Menschen oberste Priorität einräumen – unabhängig davon, woher und warum sie kommen.

Nachdem schätzungsweise 800 Flüchtlinge bei einem Bootsunglück im April 2015 im Mittelmeer ertranken verdreifachte die EU ihre Mittel für die Seenotrettung, wodurch seither  mehr als 50.000 Menschenleben gerettet werden konnten.

Dies unterstreicht die Wirksamkeit und Notwendigkeit solcher Operationen. Europa hat die Pflicht, sicherzustellen, dass die grundlegenden humanitären Bedürfnisse aller Migranten – einschließlich der Flüchtlinge – erfüllt und ihre Rechte respektiert werden.

Der Wert des menschlichen Lebens

Was mich im Moment  am meisten beunruhigt, ist eine migrationsfeindliche Sprache, die mit einer vermeintlichen Ungleichwertigkeit menschlichen Lebens arbeitet und in der Migranten nur als ungleiche Zuschauer erscheinen.

Einige Politiker und Medien  begegnen dem unsäglichen menschlichen Leid mit Indifferenz oder offener Verachtung. Es fehlt ihnen an einem gemeinsamen Verständnis einer ungeteilten Menschheit und Menschlichkeit.

Wir bei Oxfam sind der Überzeugung, dass alle Menschen – ohne Ausnahmen – gleichwertig sind. Ein Menschenleben, das bei der Flucht über das Mittelmeer oder den Balkan bedroht ist, ist nicht weniger Wert als ein Menschenleben, das beim Ausbruch eines Erdbebens oder Kriegs in Gefahr gerät.

Wir glauben, dass dies eine Zeit für Solidarität ist, für Solidarität mit Migranten. Wir rufen Menschen und die Zivilgesellschaft dazu auf, Migranten auf der ganzen Welt ihre Stimme zurück zu geben und damit unsere Menschlichkeit wieder herzustellen.

Teilen Sie die Geschichten von Migranten und Migrantinnen, fördern Sie Kampagnen von humanitären und zivilgesellschaftlichen Organisationen, und stellen Sie sich klar gegen jede Forderung, die den Schutz von Menschenleben gefährdet.

Es ist richtig, dass wir Frieden und Sicherheit in die Herkunftsländer der Migranten bringen müssen – aber es ist feige, dies als Ausrede zu benutzen, um ihnen unsere Türen zu verschließen.

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