Am 20. Juni ist Weltflüchtlingstag. Kaum ein anderer Gedenktag hat gegenwärtig eine ähnlich tagespolitische Brisanz. Im September 2013 zählte das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen zwei Millionen Syrerinnen und Syrer, die vor dem Krieg in der Heimat in Nachbarländer geflohen waren. Der UNO-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres erklärte damals, die Welt sei Zeuge einer Flüchtlingskrise, die in der jüngeren Geschichte ohne Beispiel sei, und lobte die Aufnahmebereitschaft der Nachbarländer. Heute hat sich die Zahl der registrierten Flüchtlinge auf fast vier Millionen verdoppelt. Die Belastung für die Nachbarstaaten Syriens ist inzwischen gewaltig und die Weltgemeinschaft hat zu lange weggesehen. Den Preis dafür zahlen die Flüchtlinge.
Jordanien, der Libanon und die Türkei haben zunehmend die Einreise beschränkt oder ihre Grenzen ganz geschlossen. Die Folge: Immer mehr Menschen sind im Kriegsgebiet gefangen. Zugenommen haben auch Zwangsausweisungen, Razzien in Flüchtlingsansiedlungen und Ausgangssperren. Syrische und palästinensische Flüchtlinge aus Syrien wurden zwangsweise in das umkämpfte Land zurückgebracht, aus dem sie aus Angst für Leib und Leben geflohen waren.

Was sollen die Millionen Flüchtlinge tun?

Stellen Sie sich vor, Sie fliehen mit Ihren Kindern vor Bomben, Gewalt und Hunger aus Ihrer Heimat, um in einem Zelt außerhalb eines Dorfes in einem fremden Land zu leben, abhängig von kleinen Almosen. Stellen Sie sich weiter vor, Sie lebten in der ständigen Gefahr, Ihr Zelt könnte niedergebrannt und Sie erneut vertrieben werden, wie es einige Flüchtlinge berichten, mit denen Oxfam im Libanon zusammenarbeitet. Oder stellen Sie sich vor, in einer schmutzigen, überfüllten und überteuerten Wohnung zu leben, während ihre jahrelang angesparten Rücklagen zu Ende gehen. Was würden Sie tun?
Würden Sie versuchen, Arbeit zu finden, um ihre Familie zu ernähren? Wenn Sie dies in Jordanien ohne eine kaum zu erlangende Arbeitserlaubnis tun, riskieren Sie, zurück nach Syrien deportiert zu werden. Und selbst wenn Sie unentdeckt bleiben, können Sie bestenfalls damit rechnen, von skrupellosen Arbeitgebern ausgebeutet zu werden. Wahrscheinlich werden Sie außerdem die Wut der Einheimischen auf sich ziehen, die Flüchtlinge zunehmend als gefährliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wahrnehmen.

Vielleicht sollten Sie also besser auf die humanitäre Hilfe vertrauen? Die chronisch unterfinanzierten Programme der Vereinten Nationen halten mit dem stetig wachsenden Bedarf nicht Schritt, Rationierungen sind an der Tagesordnung und der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung wird immer schwerer.

Würden Sie versuchen, in einem anderen Land Aufnahme zu finden? Oxfam hat die wohlhabenden Länder außerhalb der Region aufgefordert, bis Ende 2015 mindestens fünf Prozent der am schutzbedürftigsten syrischen Flüchtlinge Zuflucht zu gewähren. Doch die wenigsten Länder haben bislang nennenswert Menschen aufgenommen. Deutschland bildet hier mit Schweden eine löbliche Ausnahme, könnte aber gemessen an seiner Größe und Wirtschaftskraft noch deutlich mehr tun.  

Würden Sie mit Ihren Kindern in ein Boot nach Europa steigen? Angesichts der mangelnden Alternativen ist es kein Wunder, dass immer mehr Menschen dieses Risiko eingehen. Es ist ein letzter, gefährlicher Ausweg und ein teurer dazu, für viele unerschwinglich. Am Ende stranden Sie mit Glück an den Küsten Europas, wo man Sie alles andere als herzlich willkommen heißt.

Sie fragen sich deshalb, ob Sie nicht vielleicht doch lieber wieder in Ihre Heimat zurückkehren sollten? Nichts spricht dafür, dass die Gewalt in Syrien bald endet. Im vergangenen Jahr gab es mehr Tote, mehr Vertreibung und mehr Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates werden schlicht ignoriert und die Wirtschaft ist vielerorts zusammengebrochen. Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken ist nicht nur illegal, sondern auch unmoralisch.

Die Weltgemeinschaft ist in der Pflicht

Die Syrienkrise begann mit einem Ruf nach Freiheit und Würde, doch heute ist die Gewalt allgegenwärtig. Den verzweifelten Hilfsappellen begegnet die Weltgemeinschaft zunehmend mit Gleichgültigkeit. Das darf nicht sein! Es braucht eine massive Aufstockung der humanitären Hilfsmaßnahmen, deutlich mehr Aufnahme von Flüchtlingen in wohlhabenden Ländern und Investitionen in Schulen, Krankenhäuser und Infrastruktur in den Nachbarstaaten Syriens.

Vor allem aber geht es darum, die Gewalt in Syrien zu beenden. Damit dies keine Utopie bleibt, braucht es eine massive diplomatische Offensive der einflussreichen Staaten dieser Welt. Sie müssen die Kriegsparteien und ihre Unterstützer zu einem ernsthaften Friedensprozess drängen. Nur so lässt sich verhindern, dass ich beim nächsten Weltflüchtlingstag an dieser Stelle erneut einen dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen aus Syrien kommentieren muss.   

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