Om Nawal
Om Nawal hat zwei Töchter. Beide leiden unter schweren gesundheitlichen Problemen. Zu Hause kümmert sie sich deshalb sowohl um ihre Töchter als auch um deren Kinder. Ihr Ehemann lebt zwar bei ihnen, kann die Familie aber finanziell nicht unterstützen.
„Meine Töchter haben ernste Probleme mit den Nieren“, erzählte Om Nawal. „Jetzt, da wir vom Krieg umgeben sind, würde ich manchmal gerne alles aufgeben. Aber das kann ich nicht.“
Es herrschte Stille. Ganz offensichtlich fiel es Om Nawal schwer, ihren Schmerz in Worte zu fassen. Es schien fast so, als hätte sie sich bereits daran gewöhnt, sich vor ihm zu verschließen. In ihrem Haus war es bitterkalt. Sie erzählte mir, dass sie es sich nicht mehr leisten können zu heizen. „Der Winter war dieses Jahr sehr hart“, berichtete sie. „Sogar warmes Wasser ist für uns zum Luxus geworden.“
Von all den Frauen, die ich auf meiner Reise fotografierte, berührte mich der Anblick der in Gedanken verlorenen Om Nawal am tiefsten. Der Traum von einer gesunden, glücklichen Familie schien für sie so unendlich fern. Hoffnung ließ sie kaum noch zu. Doch der Krieg änderte nichts an der Liebe, die sie für ihre Familie empfindet. „In solch beunruhigenden Zeiten ist es zwar schwer weiterzumachen, aber ich ziehe es trotzdem durch“, fuhr sie fort. „Ich bleibe motiviert und versuche zu lächeln, wenn ich nicht aufhören kann zu weinen. Meine Familie glücklich zu machen, ist mein oberstes Ziel, auch wenn das heißt, dass ich hungrig ins Bett gehen muss.“
Katiba
„Ein Zuhause besteht aus Liebe, Gemeinschaft und Geduld, nicht aus Wänden und Ziegelsteinen“, sagte Katiba, Mutter von fünf Kindern.
Für sie war ihr Zuhause mehr als nur ein Haus. Die Familie baute es von Grund auf. Ein sicherer Hafen, den die schwangere Katiba nicht verlieren möchte. Als ich sie besuchte, waren alle fünf Kinder, keins älter als 13 Jahre, in der Schule. Katiba freute sich sehr, dass ihre Kinder wieder zur Schule gehen konnten. In der Vergangenheit war das lange Zeit nicht möglich.
„Meine Kinder waren sehr froh darüber, einige Monate lang keine Hausaufgaben machen zu müssen. Allerdings fehlte etwas in ihrem Leben“, berichtete sie. „Wenn man nicht zur Schule gehen kann, gibt es kein Gefühl von Sicherheit.“
Seitdem der Konflikt im Jemen eskalierte, musste Katiba zu Hause zusätzlich Verantwortung übernehmen. Sie erzählte, dass ihr Ehemann nachts als Wachmann arbeitet und es sich nicht leisten kann freizunehmen. Während der heftigen nächtlichen Bombardierungen muss sie die Kinder beruhigen und zu Hause Frieden bewahren, um ihren Ehemann zu entlasten. Sie kümmert sich außerdem um ihre alte Mutter, die bei ihnen lebt. Tagtäglich hat sie damit zu kämpfen, ihre Familie ausreichend zu ernähren.
„Jedes Mal wenn ich in dieser schweren Zeit meine Kraft verliere, denke ich daran, dass niemand sonst meine Aufgaben übernehmen würde. Ich bin für weitaus mehr als nur für Kochen und Abspülen verantwortlich“, sagte Katiba.
Einen Monat später besuchte ich sie erneut. Dieses Mal waren ihre Kinder zu Hause. Ich konnte den gebratenen Reis auf dem Herd riechen. Katiba lud mich herzlich dazu ein, auch wenn es das Einzige war, das die achtköpfige Familie zu essen hatte. Sie erzählte mir, dass sie es sich kaum mehr leisten können, Reis oder Brot zu Mittag zu essen. Eine Auswahl an verschiedenen Gerichten scheint wie ein lang vergessener Luxus.
Katiba sah dieses Mal müder aus. Seit unserem letzten Treffen war zwar nur ein Monat vergangen, doch wenn jeder Tag dein letzter sein könnte, hinterlässt die Zeit starke Spuren. Sie erzählte mir von ihrer ernsten Depression und den Komplikationen, unter denen sie während der Schwangerschaft leidet. Katiba braucht dringend medizinische Hilfe. Doch die Familie kann sich keine Arztbesuche leisten. Und selbst wenn, würde Katiba das Geld lieber sparen, um ihre Familie zu versorgen.
„Es muss endlich aufhören. Ich vermisse es, mal wieder richtig zu lachen“, sagt Katiba. „Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal von ganzem Herzen gelacht habe.“
Khamisa
Während einer Reise nach Hajjah begegnete ich einer Frau namens Khamisa, die mich zu sich nach Hause einlud. Ihre kleine, mit Stroh bedeckte Hütte, die es in dieser Gegend überall gibt, bietet nur wenig Schutz vor dem kalten Winter. Sie erzählte mir, dass sie zehn Verwandte beherbergt, die aus Gegenden stammen, die es noch schlimmer traf, beispielsweise Sa’ada. Ich sah ihr an, dass sie sehr erschöpft war.
Ich fragte Khamisa, wie ihre Familie mit dem Krieg umgeht. „Meine Verwandten kamen von überall her“, berichtete sie. „Wir hießen sie willkommen und halfen ihnen so gut wir konnten. Doch unser Leben war ohne sie schon schwierig genug. Wir hatten noch nicht mal genug Essen für uns selbst“, fuhr sie fort. „Nun müssen wir alles mit ihnen teilen. Wir können uns keine richtigen Mahlzeiten mehr leisten. Brot und Tee ist alles, was wir anbieten können.“
Khamisa erklärte mir, dass sie gezwungen war, ihre wertvollen Schafe zu verkaufen, um ihre Kinder zu ernähren. „Krieg ist erniedrigend“, sagte sie unter Tränen. „In nur einem Moment verlierst du alles.“
Hafsa
Während ich durch das Camp lief, stieg mir ein besonderer Geruch in die Nase. Fasziniert folgte ich dem Duft und traf auf eine alte Frau, die mir erzählte, dass ihre Schwiegertochter in der Nacht zuvor ein Baby geboren hatte. Die Frau erklärte mir, dass es sich bei dem Duft um Bakhoor, eine Art Weihrauch, handelt. Man verbrennt es, wenn ein Kind geboren wurde. Sie lud mich in das Zelt ein, um die Mutter Hafsa und das Neugeborene kennenzulernen.
Ich bewundere die Würde, die Hafsa und ihre Familie ausstrahlten. Sie mussten so viel zurück lassen, als sie aus ihren Häusern flohen. Dennoch hielten sie an kleinen Dingen fest, die ihre Kultur und ihre Identität ausmachten, wie den besonderen Bakhoor-Weihrauch. Ihr Zelt war sauber und ordentlich, ein vorübergehendes Zuhause in einer kleinen Gemeinschaft, in der man versucht, das Beste aus einer schlimmen Situation zu machen.
Die Zustände sind tatsächlich schlimm. Es gibt keine ärztliche Versorgung im Camp. Hafsa musste in die nächste Stadt reisen, um ihr Kind in einem Krankenhaus zur Welt zu bringen. Sie erklärte mir, weshalb die Familie ihr Zuhause in Harad, einer Stadt in der Nähe der Grenze zu Saudi-Arabien, verlassen musste und was sie seitdem durchlebten: „Wir konnten dort nicht länger bleiben. Der Tod näherte sich von allen Seiten. Ich wollte nicht, dass meine Kinder in diesen Trümmern ums Leben kommen. Was, wenn meine Kinder unter all dem Geröll schreien und sie niemand hört? Was, wenn sie zu Waisen werden? Was, wenn ich sie verliere? Wenn du Mutter bist, dreht sich dein Leben nur noch um die Kinder. Wir Frauen wurden geboren, um für unsere Kinder zu sorgen, sie zu schützen und unsere eigenen Schmerzen zu ertragen.“
Seit dem Beginn des Krieges im Jemen sind Millionen von Menschen aus ihrer Heimat geflohen. Mit nichts mehr als ein paar Kleidungsstücken auf dem Rücken haben sie sich auf die Suche nach Zuflucht oder einem neuen Ort gemacht, an dem sie sich zu Hause fühlen können. Frauen und Kinder hat es am härtesten getroffen, und viele der Armen unter ihnen haben noch nicht mal ein Dach über dem Kopf.
Als ich durch ein Flüchtlingscamp in der Stadt Amran lief, ging mir immer wieder die Frage durch den Kopf, wie kalt es wohl am Abend werden würde. Ich dachte an die Frauen, die frierend ins Bett gingen, weil sie die wenigen Decken, die sie hatten, an ihre Kinder gaben. Ich fragte mich, welche Gute-Nacht-Geschichten man hier wohl erzählt. Welche Märchen erzählen Mütter ihren Kindern? Sind es Geschichten mit Happy End? Können die Kinder immer noch von einem Leben ohne Krieg träumen?
Oxfam unterstützt seit über 30 Jahren die Menschen im Jemen. Seit Ausbruch der jüngsten Krise haben wir dort bereits mehr als 900.000 Menschen erreicht. Wir stellen vor allem Trinkwasser bereit und verteilen Bargeld, mit dem Familien Nahrungsmittel und andere lebenswichtige Güter erwerben können. Mehr Informationen finden Sie hier: Oxfams Arbeit im Jemen
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