Als Zyklon Amphan, der stärkste jemals über dem Golf von Bengalen gemessene Wirbelsturm, am 13. Mai dieses Jahres auf Land traf, waren die Mitarbeiter*innen der bangladeschischen Nichtregierungsorganisation Sushilan vorbereitet. Sie wussten, was nötig ist, um die Bevölkerung in Sicherheit zu bringen, und koordinierten in Abstimmung mit den lokalen Behörden einen umfangreichen Nothilfe-Einsatz. Oxfam arbeitet seit zehn Jahren mit Sushilan und anderen Organisationen des Landes zusammen, mit dem Ziel, ihre Kapazitäten bei der Nothilfe-Arbeit weiter zu stärken. Doch im System der internationalen humanitären Hilfe spielen Organisationen wie Sushilan nur eine untergeordnete Rolle, jedenfalls wenn es darum geht, wer Hilfsgelder empfängt und Entscheidungen trifft.

Ziel verfehlt

2019 flossen nur magere 2,1 Prozent der weltweiten humanitären Finanzmittel direkt an nationale und lokale Akteure in den von Krisen betroffenen Ländern, Tendenz fallend. Über 90 Prozent erhielten internationale NGOs wie Oxfam und UN-Organisationen. Diese reichen das Geld zwar zum Teil an lokale Partner weiter. Doch dies alleine stellt nicht sicher, dass Projekte gemeinsam entwickelt werden. Häufig sind die lokalen Akteure schlicht für die Umsetzung von Maßnahmen zuständig, die anderswo erdacht und entschieden werden – dabei sollte es genau umgekehrt sein. Deshalb hatte sich die humanitäre Weltgemeinschaft 2016 darauf geeinigt, dass bis 2020 25 Prozent aller Hilfsleistungen an lokale und nationale Akteure gehen sollen. Doch an der Umsetzung hapert es gewaltig. Überall.

Auch Oxfam ist bei humanitären Einsätzen von diesem Ziel noch ein gutes Stück entfernt – anders als bei Entwicklungsprogrammen, bei denen wir ausschließlich über lokale Partnerorganisationen arbeiten. Ein Grund hierfür ist die Art des Bedarfs vor Ort bei den humanitären Einsätzen, in denen Oxfam beteiligt ist. Als Expert*innen für komplexe, großflächige Systeme der Wasser- und Sanitärversorgung sind wir häufig dort aktiv, wo lokale Strukturen kaum existent oder gänzlich zusammengebrochen sind und auch die entsprechende Expertise zum Wiederaufbau oft noch fehlt. Dennoch wollen wir unserer Verantwortung gerecht werden. Deshalb unterstützen wir auf verschiedenen Ebenen, von der Dorfstruktur bis zum Ministerium, den Aufbau von Kapazitäten bei lokalen und nationalen humanitären Akteuren.

Denn dies ist ein weiteres Problem: Die meisten Mittel, auf die lokale NGOs direkten Zugriff haben, sind zweckgebunden – das heißt, sie fließen nur im Rahmen eines konkreten Nothilfeeinsatzes. Wenn das Projekt zu Ende ist, läuft die Finanzierung aus, sodass keine Planungssicherheit besteht, die für den Kapazitätsaufbau aber sehr wichtig wäre. Eine Oxfam-Untersuchung ermittelte, dass 2013 für die Grundfinanzierung lokaler Akteure nur magere 3,9 Millionen US-Dollar zur Verfügung standen. An diesem Missverhältnis hat sich seither wenig geändert. Wie sollen so in Krisenländern dauerhaft Strukturen entstehen, die flexibel auf humanitäre Notlagen reagieren können?

Wir müssen endlich Macht abgeben

All das zeigt: Das internationale humanitäre System braucht dringend Veränderung. Wir müssen es vom Kopf auf die Füße stellen und Macht und Ressourcen in die Hände nationaler und lokaler humanitärer Akteure legen. Wie wichtig das ist, hat nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt: Während internationale Fachkräfte nicht mehr reisen konnten, erforderte die Pandemie schnelle und effektive Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus.

Es ist effektiver und effizienter, wenn lokale Akteure eng in die Entwicklung und Umsetzung humanitärer Hilfseinsätze eingebunden sind und diese, wo möglich, auch leiten. Während internationale Organisationen oft über eine sehr große technische Expertise und langjährige Erfahrung verfügen, kennen lokale Organisationen die Bedingungen vor Ort am besten. Sie haben besseren Zugang zu den Menschen und Institutionen und bleiben vor Ort, auch nachdem die Aufmerksamkeit der Medien und internationalen Öffentlichkeit sich anderswohin orientiert. Zudem gelingt in einem von lokalen Akteuren mitgestalteten Nothilfe-Einsatz der Übergang hin zu Wiederaufbau und Entwicklung oft leichter.

Nur so können wir den wachsenden humanitären Herausforderungen auf der Welt gerecht werden: Bewaffnete Konflikte verursachen und verschärfen eine Krise nach der anderen, fast 80 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die Zahl der klimabedingten Katastrophen nimmt seit Jahren zu. Überschwemmungen, Stürme, Hitzewellen, Dürren und Waldbrände verursachten laut Vereinte Nationen in den vergangenen 20 Jahren mehr als doppelt so hohe Schäden wie in den 20 Jahren davor. Weltweit sind fast 170 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Gleichzeitig sind die Nothilfe-Aufrufe der Vereinten Nationen stets sträflich unterfinanziert.

Rassismus und Neokolonialismus überwinden

Doch es gibt noch einen weiteren wichtigen Grund für die so genannte Lokalisierung von Nothilfe-Einsätzen: Es gilt, die neokoloniale und zum Teil rassistische Struktur des internationalen humanitären Systems endgültig zu überwinden. Wenn Organisationen aus dem Globalen Norden Umfang und Zuschnitt humanitärer Hilfseinsätze in Ländern des Globalen Südens bestimmen, verhindert dies, dass dort lokale, politisch unabhängige Strukturen entstehen. Diese paternalistische Bevormundung reproduziert zudem das Bild des „weißen Helfers“. Auch Medien haben daran ihren Anteil, wenn sie im Falle von Katastrophen vor allem Mitarbeiter*innen deutscher Hilfsorganisationen interviewen, statt lokale Nothelfer*innen zu Wort kommen zu lassen.

Die „Lokalisierung“ humanitärer Hilfe ist sicher kein Allheilmittel und auch nicht immer sinnvoll oder möglich, etwa in fragilen Staaten oder bei Katastrophen, die ein Land alleine nicht bewältigen kann. Doch der Grundsatz muss lauten: Kapazitäten und Strukturen in Krisenländern müssen konsequent genutzt und gestärkt werden, bevor externe Akteure im Land aktiv werden. Und wenn letzteres nötig ist, sind möglichst auch langfristig tragfähige lokale Strukturen und Kapazitäten aufzubauen.

Damit das passiert, müssen internationale Geber wie die EU oder die Bundesregierung nationalen und lokalen Akteuren den direkten Zugang zu humanitärer Finanzierung erleichtern und hierfür ihre Vergabepraxis ändern. So sollten Gelder nicht ausschließlich über Mittler in Form der UN oder internationaler NGOs fließen, sondern auch über direkte Verträge. Zudem kann die Bundesregierung einen noch größeren Anteil ihrer Mittel in die sogenannten Country Based Pooled Funds einzahlen, die in den Krisenländern selbst verwaltet werden und lokalen Akteuren offen stehen. Dieser Paradigmenwechsel ist überfällig. Doch dazu fehlt in Deutschland und Europa bislang der politische Wille.

7 Kommentare

Ich danke Ihnen für diesen spannenden Blick hinter die Kulissen. Vieles ist einem „von außen“ gar nicht so klar. Gut, dass Oxfam sich auch hier kritisch hinterfragt und auch darüber spricht. Weiter so!

Ich kann diese Initiative nur unterstützen. Eine wesentliche Perspektive fehlt mir allerdings.

Überall auf der Welt tragen Frauen die Hauptlast der Sorgearbeit, wie gerade auch Oxfam immer wieder betont.
Gleichzeitig sind gerade sie in Kriegs,- aber auch in Katastrophensitiuationen besonderen Gefahren und männlicher Gewalt ausgesetzt. kriegsbedingt komplett abwesend.

In einer Kriegs- und Katastrophensituation, die Frauen ganz besonders fordert, sind sie oft nicht in der Lage gleichzeitig eine Auseinandersetzung um die Macht zu führen oder sich zum Beispiel Übergriffe sexualisierter Gewalt öffentlich zu wehren.

Durch die dauerhafte Weitergabe an Mittel vor Ort, könnten sich sogar vorhandene Hierarchien und ökonomische Ungleichheiten, auch Korruption verstärken, wie dies auch immer wieder kritisch zu entwicklungspolitischen Projekte beschrieben wird, schon vor mehreren Jahrzehnten zum Beispiel von der deutschen Entwicklungshilfeexpertin Brigitte Erler in ihrem Buch "Tödliche Hilfe", oder auch die österreichischen Autorinnen Bernard und Schlaffer in ihrem analytischen Erfahrungsbericht 'Die Grenzen des Patriachats'.

Eine Verlagerung der Entscheidungsebenen von oben nach unten müsste Schritt für Schritt v o r Akuteinsätzen, Frauen und insgesamt demokratische Teilhabe strategisch stärken. Das ist eine sehr langfristige Arbeit.

Es ist unerlässlich, dass humanitäre Organisationen bei Ihrem Einsatz in ihrer Ausbildung und Einbeziehung und Verantwortungsdelegation den Frauen vor Ort ermöglichen, auf Augenhöhe Entscheidungen zu treffen.

Wie dies bei kurzfristigen Noteinsätzen oder danach möglich ist, ohne dass solche Konditionen für die Weitergabe der Hilfsgelder erst Recht auch als kolonialistische Einmischung wahrgenommen wird, weiß ich nicht. Hier gibt es vielleicht Best Practise Beispiel, die es bekannter zu machen gilt.

mit freundlichem Gruß

Angelika Birk

Ganz wichtig für Natur und Umwelt, und endlich den großen den Kampf Ansagen sofort.

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