Seit 150 Tagen ist die neue Regierung nun schon im Amt und genauso lange sitzt mit Olaf Scholz wieder ein Sozialdemokrat im Finanzministerium in Berlin. Eine Gegenzentrale zum Kanzleramt wolltet ihr euch mit dem Ministerium sichern, für mehr sozialdemokratischen Einfluss im Land, deshalb habt ihr während der Koalitionsgespräche hart verhandelt. Doch zieht man nach 150 Tagen sozialdemokratischer Finanzpolitik eine erste Bilanz, muss man sich verwundert die Augen reiben: Nicht wenige steuerpolitische Forderungen aus dem Wahlkampf scheinen in Rekordzeit in Vergessenheit oder aufs Abstellgleis geraten zu sein, weil sie nicht den Interessen der Finanzindustrie und multinationaler Konzerne entsprechen. Was ist denn da los?

Bei zwei steuerpolitischen Themen, die uns besonders am Herzen liegen, ist der Kurswechsel des Finanzministers für uns nicht nur gänzlich unverständlich, sondern auch völlig inakzeptabel.

Da wäre erstens die Finanztransaktionssteuer – die Steuer gegen Armut.

Eine Steuer auf den Handel von Finanzprodukten wie Aktien oder Derivaten, die nicht nur die Finanzmärkte stabilisieren, sondern auch Einnahmen in Milliardenhöhe einbringen würde.

Mit Nachdruck hat die SPD in den vergangenen sieben Jahren die Einführung der Finanztransaktionssteuer (FTS) gefordert. „Schäuble muss liefern“, „SPD setzt Union unter Druck“, „SPD besteht auf Finanztransaktionssteuer“, sind nur einige Überschriften, unter denen sich führende sozialdemokratische Politiker*innen für die FTS ausgesprochen haben. Noch 2011 hatte die SPD die Einführung der Steuer zur Bedingung für ihre Zustimmung zum Fiskalpakt gemacht und nur auf ihren Druck hin steht sie auch im aktuellen Koalitionsvertrag. Als die Verhandlungen über die FTS auf europäischer Ebene ins Stocken gerieten, waren aus den Reihen der SPD sogar Forderungen nach einem nationalen Alleingang zu hören.

Eigentlich eine klare Sache, jetzt, da die SPD endlich den Finanzminister stellt, oder?

Falsch. Kaum im Amt scheint sich Olaf Scholz nur noch sehr vage an die Forderungen seiner Partei zu erinnern und hat dem Projekt Finanztransaktionssteuer im Handumdrehen eine Schrumpfkur verpasst. Plötzlich ist aus dem Finanzministerium nur noch von einer Steuer auf den Handel mit Aktien zu hören, alle anderen Finanzprodukte sollen verschont bleiben. Die erwarteten Einnahmen würden damit um mehr als 90 Prozent zurückgehen. Wer von dieser Politik profitiert? Allein die Finanzindustrie, beziehungsweise Spekulanten, die mit kurzfristiger und schädlicher Zockerei enorme Gewinne einfahren.

Zweitens: Rolle rückwärts bei der Bekämpfung von Steuervermeidung

Als sich Olaf Scholz vor zwei Wochen erstmals zum Thema Steuertransparenz geäußert hat, mussten wir uns das Interview verwundert zweimal anhören, um zu begreifen, was der Finanzminister sagt. In ihrem Wahlprogramm sprach sich die SPD noch dafür aus, dass Konzerne Informationen darüber offenlegen müssen, in welchen Ländern sie ihre Gewinne erwirtschaften und wie viel Steuern sie darauf zahlen: „Wir wollen mehr Transparenz in Form einer öffentlichen und länderbezogenen Berichtspflicht über Gewinne und darauf gezahlte Steuern für multinational agierende Unternehmen.“ Nun lehnt der Finanzminister einen entsprechenden Gesetzesvorschlag der EU-Kommission ab. Scholz versichert zwar, dass auch er ein effizientes System gegen Steuervermeidung schaffen wolle – dieses solle aber bitteschön auch von den Konzernen akzeptiert werden. Heißt: Scholz macht den Bock zum Gärtner und die Konzerne können quasi selbst bestimmen, wie ihre Steuervermeidungsmethoden eingeschränkt werden – oder eben auch nicht.

Die Leidtragenden dieser Politik? Nicht nur die Länder der EU selbst, denen im Jahr Milliarden Steuereinnahmen entgehen, sondern vor allem die Menschen im globalen Süden. Sie spüren die ausbleibenden Steuereinnahmen und Entwicklungshilfezahlungen direkt, denn sie fehlen für dringend benötigte Investitionen in Gesundheit, Bildung und soziale Sicherungssysteme. Das macht vielen Ländern die Überwindung von Armut extrem schwer.

Liebe SPD, ihr habt Recht: Das Thema soziale Gerechtigkeit braucht dringend starke Anwält*innen in der Bundesregierung. Aber ihr müsst diesen Part nun auch übernehmen! Der Wahlkampf ist vorbei und ihr seid in der Regierungsverantwortung. Die „Zeit für mehr Gerechtigkeit“, von der ihr so viel gesprochen habt, muss jetzt anbrechen! Ein Finanzminister, der die Interessen der Finanzindustrie und multinationaler Konzerne so deutlich über die Interessen der Bürgerinnen und Bürger stellt, scheint das Motiv des SPD-Wahlkampfes nicht richtig verstanden zu haben. Jetzt ist Zeit zu handeln!

48 Kommentare

Von Scholz erwarte ich keine positiven Veränderungen FÜR den Bürger. Er ist ein SPDler, der die Interessen des Seeheimer Kreises in seiner Partei vertritt. Und die sind für ihren wirtschafts- und finanzpolitisch freundlichen Kurs bekannt. Daß ausgerechnet Scholz jetzt die Rente bis 2040 festschreiben will ist nur eine Luftblase die den kommenden Wahlkämpfen dienen soll. Er weiß genau, daß er das mit der CDU/CSU nicht erreichen kann und genau deshalb fordert er das. Um hinterher sagen zu können, er hätte es ja versucht, aber er bekam keine Mehrheit. Das alles stinkt zu sehr, um es für ernsthafte Politik durchgehen zu lassen. Wenn er es ernst meinen würde, dann müßte er so weit gehen, daß er das Platzen der Koalition in Kauf nimmt. Das tut er ganz bestimmt nicht. Er ist nicht mal ein Blender, sondern wendet einfach nur hinterhältige Methoden an. Da paßt er genauso wie mit seiner Finanzpolitik zu Schäuble. Brauchen wir das?

Ich bin entsetzt über den Sinneswandel von Olaf Scholz und verliere den Glauben an diese ehemalige Volkspartei SPD! So vertreibt man noch die letzten Wähler und Mitglieder werden der SPD das Parteibuch zurück senden!

Wenn die SPD endlich einmal wahrgenommen werden möchte als eine zukunftsorientierte Partei, dann sollte sie in ihren eigenen Reihen den "Amnesieanfällen" unmittelbar nach Abschluß eines Koalitionsvertrages ein Ende setzen. Zukunftsorientiert wäre es m.E., wenn z.B. die KI gefördert und gleichzeitig die unumgänglichen Folgen wie, Wegfall von Arbeitsplätzen über alle Bildungsebenen und damit fehlende Renteneinzahlungen etc.ausgeglichen werden durch die Besteuerung von Finanzderivaten (einfach nur in den "alten Vorschlägen" blättern), Änderung der Steuerberechnungsbasis für Unternehmen wie Apple, Google, Facebook & Co. durch das Feststellen der Umsätze in unserem Steuerraum und diese zur Besteuerung heranziehen; das könnte dann die Basis sein für ein "Bedingungsloses Grundeinkommen" sein, das wiederum Hartz4 ablöst usw. Warum wagt man eigentlich nicht einmal einen großen Wurf an Stelle der kleinmütigen Kommaschiebereien!!!??? Eine Partei die immer nur den Themen hinterherläuft und glaubt die Politik eines "Hamburger Pfeffersacks" sei das non plus ultra kann man wirklich nicht brauchen.

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