Die humanitäre Situation ist erschreckend

Kinder holen Wasser an einem Oxfam-Wassertank in Khamer.

Seit 16 Monaten habe ich über die Krise gelesen und gesprochen, aber es ist schwierig, ihr ganzes Ausmaß aus der Distanz einzuschätzen. In Khamer ist die große Zeltstadt im Schatten der Altstadt nicht zu übersehen. Als ich die Menschen dort fragte, welche Themen sie am meisten beunruhigen, prasselten die Worte auf mich ein: Gesundheit, Wasser, sanitäre Versorgung, Wiederaufbau, geschlechterbasierte Gewalt und mangelnder Schutz wurden von vielen als dringende Probleme genannt. Sogar die Kinder der besser situierten Anwohner gehen seit drei Jahren nicht mehr zur Schule. Nahezu jede und jeder betonte aber, dass die größte Herausforderung das fehlende Einkommen sei, um Essen zu kaufen.

Das Geschäftsleben ist zum Erliegen gekommen und es gibt keinen Bedarf nach informeller Arbeit, die die grundlegende Einkommensmöglichkeit für viele der ärmsten Jemeniten darstellt. Lebensmittel sind zwar auf dem Markt erhältlich, aber die meisten Menschen können sie sich nicht leisten. Khamer ist weit entfernt vom Hauptkampfgebiet, und es liegt  nahe der Hauptstadt Sanaa und damit leichter erreichbar für Hilfsorganisationen – und trotzdem ist die Not überwältigend.

Lebensmittelimporte sind gefährdet

Trotz weitverbreiteter Arbeitslosigkeit und Armut herrscht im Jemen bisher keine Hungersnot. Denn obwohl die Importe durch den beschädigten Hafen in Hodeidah langsamer eintreffen, erreichen nach wie vor Lebensmittel aus Saudi Arabien die Märkte. Viele Jemeniten können mit dem Geld, was sie haben, Essen noch in kleinen Mengen kaufen. Das führt zu weitreichender Unterernährung, verhindert aber massenhafte Todesfälle.

Aufgrund der schwindenden Währungsreserven der jemenitischen Zentralbank kann das Land aber bereits nicht mehr die ausreichende Einfuhr von Lebensmitteln garantieren.

 

Zu wenig Geld

Genauer gesagt: jemenitisches Geld! Weil es unmöglich ist, Geld in Form von Devisen auf dem Bankweg ins Ausland zubringen, haben die reichsten jemenitischen Geschäftsleute ihr Geld in jemenitischen Riyals abgehoben. Sie sind überzeugt, dass das Geld unter der Matratze besser aufgehoben ist als in einer Bank, die es nicht mehr in Devisen umtauschen kann. Erinnern Sie sich an die aufgebrachten Menschen, die in dem Filmklassiker Ist das Leben nicht schön? die Türen der Banken eintreten um an ihr Geld zu kommen? Das passiert im Jemen, mit dem Unterschied, dass hier viele wohlhabende  Menschen ihr Geld bereits abgehoben haben. So bleibt nur noch ein begrenzter Vorrat Riyals übrig: für die weniger Wohlhabenden, für die humanitären Organisationen, die mit Bargeldzahlungen arme Menschen unterstützen und auch für die Regierung, um die Gehälter ihrer Bediensteten zu bezahlen.

Die Zentralbank könnte mehr Geld drucken. Allerdings, ohne ausreichende Währungsreserven könnte das den Riyal weiter abwerten, der seit Beginn der Krise im Vergleich zum US-Dollar bereits substanziell an Wert eingebüßt hat. Wenn das Geld also an Wert verliert und gleichzeitig die Lebensmittelpreise steigen, sind die Perspektiven für die jemenitische Bevölkerung äußerst schlecht.

Rabab ist mit ihrer Familie nach Angriffen aus Al Jawf nach Khamer geflüchtet. Sie kocht Tee und verwendet Plastikflaschen, um Feuer zu machen, weil sie kein Holz findet.

Die jemenitischen Menschen sind unfassbar widerstandsfähig

Ich zögere, dies zu schreiben – denn ich finde es eigentlich herablassend, Menschen, die unter unbeschreiblich ungerechten Bedingungen überleben müssen, als widerstandsfähig zu bezeichnen. In diesem Fall meine ich aber etwas Besonderes. Die Menschen haben sich ihr Leben inmitten von Gewalt und Armut eingerichtet, individuell und gemeinschaftlich, mit einem unglaublichen Mut. Als kein Öl mehr ins Land kam, reagierten wohlhabendere Jemeniten darauf, indem sie die Skyline von Sanaa mit Solarpanelen überzogen. Und ich werde so schnell nicht das entsetzliche Dröhnen der saudischen Kampfjets vergessen, die am 29. Juli über Sanaa donnerten. – Die Menschen entgegneten ihnen mit einem Hupkonzert ihrer Autos. Am nächsten Tag, trotz der Gefahr durch Bombardierungen, ging das Leben wie gewohnt weiter. Die Jemeniten kümmerten sich entschlossen um ihre alltäglichen Erledigungen. Örtliche Gemeinderepräsentanten strahlten vor Stolz, als sie mir von Frauen erzählten, die mit den traditionellen Geschlechterrollen gebrochen haben, um auf neuartige Weise selbst Geld für ihre Familien zu verdienen. Und jemenitische Nothelfer, oft vom internationalen humanitären System ignoriert, kümmern sich an der Basis um die Bedürfnisse der Menschen, die von den großen internationalen Organisationen nicht erreicht werden können.

Die Menschen fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft verlassen

Und sie haben gute Gründe, so zu empfinden. Ein Scheich erzählte mir, dass seiner Meinung nach die westlichen Mächte während des arabischen Frühlings Demokratie in Aussicht gestellt hatten, sich dann aber abwandten, als in der Folgezeit traditionelle jemenitische Machteliten das Land spalteten.

Wo immer ich hinkam, bedankten sich die Menschen für meinen Besuch. Sie berichteten, dass sie sich durch die Anwesenheit von Ausländern sicherer fühlten und weniger verlassen von der Welt, die sich größtenteils abgewandt hätte. Dass es keine internationalen Vertreter im Jemen gibt, zeigt die generell fehlende Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft: Bis heute haben reiche Geberländer nur 26 Prozent des UN-Nothilfeaufrufs für dieses Jahr finanziert, während zeitgleich die USA, Großbritannien und andere die Konfliktparteien unterstützen. Dies allein zeigt allzu deutlich das mangelnde internationale Interesse an einer Beendigung des Leids von 21,2 Millionen Menschen.

Die Tatenlosigkeit des UN-Sicherheitsrats ist vielleicht der offensichtlichste Beweis für dieses Desinteresse. Am 14. April 2015 hat der Sicherheitsrat eine Resolution verabschiedet, in der v.a. die Huthis zu Zugeständnissen aufgefordert wurden, ohne jedoch von der jemenitischen Regierung und der von Saudi-Arabien geführten Militärkoalition ähnliche Friedensbemühungen zu verlangen. Seitdem hat die jemenitische Regierung stets als Voraussetzung für ihre Mitwirkung an einer umfassenden politischen Lösung die Umsetzung der Resolution eingefordert. Obwohl inzwischen klar ist, dass die frühere Resolution mitverantwortlich für die verfahrene Situation ist, hat der Sicherheitsrat noch immer keine neue Resolution beschlossen, um die Konfliktparteien zu einer friedlichen Lösung zu bewegen.

Ahmed, 13 Jahre alt, floh aus Sa'dah nach Khamer. Er legt ein Bild aus kleinen Steinen und erzählt: " Ich zeichne das Oxfam Logo, weil es das einzige Neue ist, was ich seitdem ich aus Sa'dah geflohen bin, kennengelernt habe. Ich zeichne gern.... Hier habe ich keine Farben, deshalb benutze ich kleine Steine und zeige den anderen Kindern, wie man zeichnet.

Und jetzt?

Im Jemen sind mehr Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen als irgendwo sonst auf der Welt. Aber aufgrund der relativ geringen Anzahl an Flüchtlingen, die das Land verlassen können, sowie des schwierigen Zugangs für Journalisten ins Land, fehlt den meisten Menschen – Politikexperten und Regierungsvertreter eingeschlossen – eine Vorstellung vom Ausmaß des Leids im Land. Als ich Sanaa verlassen hatte, drängte sich mir der Gedanke auf, dass sich der Umgang der internationalen Gemeinschaft mit der Krise im Jemen vielleicht erst dann ändert, wenn die Staats- und Regierungschefs vor Ort sehen würden, was ich gesehen habe.

Oxfams Arbeit im Jemen

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