Charlotte Becker, Leiterin Politik und Kampagnen der Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam Deutschland, kommentiert die Beschlüsse des G7-Gipfels in Elmau:

„Die Beschlüsse des Gipfels von Elmau sind Blendwerk, das vom historischen Versagen der G7 ablenken soll. Die zugesagten 4,5 Milliarden US-Dollar sind viel zu wenig, um die globale Nahrungsmittelkrise zu beenden und zu verhindern, dass Menschen weiter hungern. Um den Hunger zu beenden und die Hilfsaufrufe der Vereinten Nationen zu finanzieren, sind mindestens 28 Milliarden US-Dollar zusätzlich erforderlich.

Zudem greifen die Beschlüsse viel zu kurz: Auf jeden Dollar an Hilfsgeldern kommen zwei Dollar, die einkommensschwache Länder an ihre Gläubiger zahlen müssen, oft Banken in New York oder London, die riesige Gewinne machen. Die G7 hätten sich darauf verständigen müssen, dass diese Schulden gestrichen werden sollen. Doch nichts dergleichen ist passiert.

Geschichte droht sich zu wiederholen: Beim letzten G7-Gipfel in Elmau hatten sich die Staats- und Regierungschefs verpflichtet, die Zahl der Hungernden um 500 Millionen Menschen zu verringern. Doch passiert ist nichts. Stattdessen gibt es sieben Jahre später 335 Millionen mehr Hungernde auf der Welt, verbunden mit unermesslichem Leid. Wir brauchen jetzt dringend neue Ansätze, um die zugrunde liegenden Ursachen von Hunger wie wirtschaftliche Ungleichheit und die Klimakrise zu bekämpfen.

Bei vielen Unternehmen sind die Gewinne während der COVID-19-Pandemie in die Höhe geschnellt und die Zahl der Milliardäre ist in 24 Monaten stärker gestiegen als in 23 Jahren. Es gibt jetzt 62 neue Milliardäre in der Nahrungsmittelindustrie.

Die G7 müssen deshalb die großen Gewinner der Krise besteuern. Die Energie- und Lebensmittelkonzerne machen riesige Gewinne und schaffen neue Milliardäre. Nötig ist deshalb eine Übergewinnsteuer auf Extraprofite während der Corona-Pandemie."

G7-Maßnahmen gegen Klimakrise unzureichend

"Auch bei der Bekämpfung der Klimakrise springen die G7 deutlich zu kurz. Die Weigerung der G7-Staaten, dem Beschluss des UN-Klimagipfels 2021 klar nachzukommen und jetzt ihre schwachen Klimaziele zu verschärfen, sendet ein schwieriges Signal an den Rest der Welt, insbesondere an einkommensschwache Länder, die bereits massiv unter den Auswirkungen der sich verschärfenden Klimakrise leiden.

Die Verwässerung der im letzten Jahr eingegangenen Verpflichtung, die öffentliche Finanzierung von klimaschädlichen fossilen Energieprojekten zu beenden, ist unverantwortlich und wird die Klimakrise weiter verschärfen. Das wird noch verstärkt durch die mangelnden Fortschritte hinsichtlich gemachter Zusagen über versprochene finanzielle Hilfen gegen die Klimakrise in einkommensschwachen Ländern.

Die eingegangenen bzw. bekräftigten Verpflichtungen, den Stromsektor bis 2035 und den Straßenverkehr bis 2030 stark zu dekarbonisieren, deuten zwar in die richtige Richtung, hätten aber stärker ausfallen müssen. Was nach wie vor fehlt, ist ein Ausstiegsdatum 2030 für die klimaschädliche Kohle.

Für hilfreich halten wir die ersten Schritte hin zu den angekündigten Just Energy Partnerships mit Indonesien, Indien, Senegal und Vietnam. Solche Partnerschaften können für die beteiligten Länder mehr Verlässlichkeit hinsichtlich der notwendigen Unterstützung bedeuten. Allerdings braucht es für wirksame Partnerschaften auch ausreichend finanzielle Zusagen, und die Umsetzung dieser Partnerschaften vor Ort mit den Menschen partizipativ, inklusiv und gendergerecht gestaltet werden und insbesondere auch bestehende Ungleichheiten angehen."

Pandemie auf dem Gipfel sträflich abwesend

"Die COVID-19-Pandemie war zudem sträflich abwesend auf diesem Gipfel, als gebe es keine globale Gesundheitskrise mehr. Doch davon sind wir weit entfernt. Es drohen neue Virus-Varianten, denen Millionen Menschen vor allem in einkommensschwachen Ländern schutzlos ausgeliefert sind, weil sie keinen Zugang zu Impfstoffen haben. Nur 18 Prozent der dortigen Bevölkerung sind geimpft. Dafür sind vor allem die G7 verantwortlich. Sie haben nicht einmal die Hälfte der vor einem Jahr versprochenen Impfdosen geliefert. Und sie widersetzen sich einer Freigabe des Patentschutzes auf COVID-19-Impfstoffe, Medikamente und Tests und verhindern dadurch, dass einkommensschwache Länder selbst in die Produktion dieser lebensrettenden Technologien einsteigen können."

 

Redaktionelle Hinweise:

  • In Westafrika herrscht derzeit die schlimmste Nahrungsmittelkrise seit einem Jahrzehnt: 27 Millionen Menschen leiden Hunger. Diese Zahl könnte auf 38 Millionen ansteigen, wenn nicht dringend etwas unternommen wird. Das wäre ein noch nie dagewesenes Ausmaß.
  • In Ostafrika stirbt in den von der Dürre heimgesuchten Ländern Äthiopien, Kenia und Somalia schätzungsweise alle 48 Sekunden ein Mensch an Hunger, da die Maßnahmen zu langsam und zu begrenzt waren, um eine Eskalation der Hungerkrise zu verhindern. Das Niederschlagsdefizit in der letzten Regenzeit war in diesen drei Ländern das größte seit mindestens 70 Jahren.
  • Im Jemen und in Syrien haben die langwierigen Konflikte die Lebensgrundlage der Menschen entzogen. Im Jemen haben mehr als 17 Millionen Menschen - über die Hälfte der Bevölkerung - nicht genug zu essen, und in Teilen des Landes herrschen hungerähnliche Bedingungen. In Syrien haben sechs von zehn Menschen (12,4 Millionen) Mühe, genug zu essen auf den Tisch zu bringen. Das bedeutet, dass viele Familien zu extremen Maßnahmen greifen, um zurechtzukommen: Sie verschulden sich, um Lebensmittel zu kaufen, nehmen ihre Kinder aus der Schule, um zu arbeiten, und reduzieren die Anzahl der täglichen Mahlzeiten. Verbreitet ist auch die Verheiratung junger Töchter, damit eine Person weniger ernährt werden muss.
  • Aus dem FAO-Bericht über den Stand der Welternährung 2021 (Seite 10) geht hervor, dass im Jahr 2015 615 Millionen Menschen hungerten. Das Welternährungsprogramm (WFP) spricht nun von 950 Millionen Hungernden in diesem Jahr (2022).  Die Differenz zwischen diesen beiden Zahlen beträgt 335 Millionen.  Bei ihrem letzten Treffen in Deutschland im Jahr 2015 gaben die G7 in ihrem Kommuniqué folgende Erklärung ab:
  • „Als Teil eines breit angelegten Engagements mit unseren Partnerländern und internationalen Akteuren sowie als bedeutender Beitrag zur Post-2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung streben wir an, 500 Millionen Menschen in Entwicklungsländern bis 2030 von Hunger und Mangelernährung zu befreien.“
  • Nach Angaben des OCHA Financial Tracking Service der Vereinten Nationen fehlen 37 Milliarden US-Dollar für die Finanzierung humanitärer Hilfe. Laut dem Bericht Ceres2030: Sustainable Solutions to End Hunger, der einen Zehnjahresplan zur Beseitigung des Hungers enthält, werden in den nächsten zehn Jahren weitere 330 Milliarden US-Dollar benötigt, und die Finanzierungslücke der Geber beträgt in diesem Zeitraum 140 Milliarden US-Dollar, also 14 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Addiert man 37 Milliarden US-Dollar und 14 Milliarden US-Dollar, so ergibt sich ein Gesamtbetrag von 51 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
  • Der Anteil der G7 an der Gesamtunterstützung beträgt rund 65 Prozent, so dass der Anteil der G7 an dieser Zahl 33 Milliarden US-Dollar beträgt.  Sie haben 4,5 Milliarden US-Dollar versprochen, so dass eine Lücke von 28,5 Milliarden US-Dollar bleibt.