Oxfam setzt sich weltweit dafür ein, Frauen eine Stimme zu geben. Zum Beispiel in Tunesien, wo sieben Jahre nach der Revolution des Arabischen Frühlings Politik immer noch Männersache ist. Das zeigt sich vor allem auf lokaler Ebene: 2017 gab es im ganzen Land nur eine Gouverneurin, und von 114 Distriktvorständen sind nur neun weiblich. Vor allem im konservativen Süden nehmen Frauen kaum am öffentlichen Leben teil; dort finden 40 Prozent der Menschen, dass Frauen nicht an der Politik teilhaben sollten.

Dagegen rebelliert Oxfams Partnerorganisation LET (La Ligue des Electrices Tunisiennes, zu Deutsch: Liga der tunesischen Wählerinnen), die sich für Demokratie, Teilhabe und Mitbestimmung von Frauen einsetzt. Die Organisation will Frauen stärken, damit sie eine aktivere Rolle in Politik, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Wirtschaft einnehmen und die Entwicklung des Landes aktiv mitgestalten.

Unterstützt von Oxfam schult LET politisch engagierte Frauen in einem Mentoring-Programm, um sie für politische Ämter zu qualifizieren. Themen sind Wahlen und Wahlkampagnen, öffentliche und politische Kommunikation sowie Menschen- und Frauenrechte.

Zwei Frauen aus dem Projekt, Amira Najih (28) und Nessrine Amri (28), kandidieren bei den nächsten Kommunalwahlen im Mai 2018. Im Interview erzählen sie von ihren Erfahrungen mit dem LET-Mentoring-Programm, warum sie sich politisch engagieren und wie ihr Umfeld darauf reagiert.

Frau Amri, Frau Najih, was haben Sie im Mentoring-Programm gelernt?

Nessrine Amri: Ich habe natürlich viel über den politischen Diskurs gelernt. Vor allem aber habe ich jetzt ein viel größeres Selbstvertrauen: Ich kann mit Menschen sprechen und weiß, wie ich mich am besten ausdrücke. Zudem weiß ich jetzt, wie ich mich für die Rechte von Frauen einsetzen kann.

Amira Najih: Ich kenne jetzt die Werkzeuge für die Entwicklung eines politischen Diskurses, für Kommunikation und Konfliktmanagement. Insgesamt habe ich viel über Frauenrechte, Gender und das Wahlrecht gelernt.

Was im Mentoring-Programm hat Ihnen am besten gefallen?

Amira Najih: Ich fand es toll, dass es sowohl Gruppenunterricht als auch eine individuelle Begleitung gab.

Nessrine Amri: Mir hat das Gruppen-Coaching ebenfalls besonders gut gefallen. Das war nicht so abstrakt, da wir in praktischen Übungen Debatten über aktuelle Ereignisse in der Region geführt haben.

Warum sind Sie in die Politik gegangen?

Nessrine Amri: Ich finde, als junge Menschen sollten wir uns für Veränderung einsetzen, neue Vorschläge und Visionen vorantreiben. Wir dürfen nicht andere über unser Schicksal entscheiden lassen.

Amira Najih: Ich glaube, dass die Beteiligung junger Menschen am politischen und öffentlichen Leben essentiell ist.

Gab es eine besondere Erfahrung, die Sie für Ihr politisches Engagement motiviert hat?

Nessrine Amri: Der entscheidende Moment war für mich nach der Revolution 2011. Endlich konnten wir alte Regeln abschaffen, die bis dahin verhindert hatten, dass die jüngere Generation eine Stimme in der Politik hat.

Amira Najih: Bei mir war es das Vertrauen, das einige Politikerinnen in mich hatten. Sie haben daran geglaubt, dass ich es kann – obwohl ich noch jung bin und noch nicht so viel Erfahrung habe. Das hat mich bestärkt, in die Politik zu gehen.

Was wollen Sie als Lokalpolitikerinnen für die Frauen in Ihrer Gemeinde ändern?

Amira Najih: Ich möchte benachteiligten Frauen helfen, ihre Stärken zu entdecken. Ich will sie für Politik und Menschenrechte begeistern und ihnen das Selbstvertrauen geben, sich aktiv in die Entwicklung ihrer Region einzubringen.

Nessrine Amri: Im öffentlichen Leben sind Frauen noch immer nicht sichtbar genug. Ich will Frauen als starke Kraft in die Öffentlichkeit bringen. Als Frauen, die ihre Rechte verteidigen und sich für andere Frauen in der Region einsetzen. Frauen sollten sowohl in den politischen Parteien als auch in den gewählten Gremien gleichberechtigt vertreten sein – so wie es Artikel 46 der tunesischen Verfassung von 2014 und das kürzlich verabschiedete Wahlgesetz vorsehen.

Was denken Ihre Familien über Ihre Kandidaturen?

Nessrine Amri: Meine ganze Familie unterstützt mein politisches Engagement. Es gab früher schon Politiker in meiner Familie, daher sind viele meiner Verwandten sehr interessiert am öffentlichen und politischen Leben.

Amira Najih: Meine Familie denkt, ich hätte schon längst für die Kommunalwahlen kandidieren sollen.

Wie reagieren die Menschen in Ihrer Umgebung auf Ihr politisches Engagement?

Nessrine Amri: Es gibt viele Leute, die mein Engagement unterstützen. Gleichzeitig gibt es aber immer noch Menschen, die finden, dass Frauen allein für den Haushalt zuständig sind.

Amira Najih: Derzeit habe ich keine Probleme mit meinem Umfeld und meiner Familie. Ich hoffe, das ändert sich nicht später, wenn ich gewählt werde.

Wie hat sich Ihr Leben mit dem Mentoring-Projekt verändert?

Nessrine Amri: Ich kann meine Handlungen und Reaktionen als politische Aktivistin besser steuern und zielgerichteter einsetzen. Ich kann auch besser öffentlich sprechen, bringe mich bei politischen Veranstaltungen aktiv ein und sage meine Meinung. Zudem interessiere ich mich jetzt noch mehr für Politik – und zwar sowohl als Kandidatin für die Kommunalwahlen als auch als Bürgerin.

Amira Najih: Auf persönlicher Ebene habe ich gelernt, mich besser zu organisieren. Auf politischer Ebene kann ich meine Vision und meine Ziele klarer identifizieren und finde einfacher Wege, sie zu erreichen. Ich kann in der Öffentlichkeit besser reden und weiß mehr über Gender-Themen und über die Rechte von Frauen.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Amira Najih: Ich möchte Frauen darin bestärken, sich am politischen Leben zu beteiligen. Dafür möchte ich sie sensibilisieren und mobilisieren. Ich möchte mich für die Kommunalwahlen aufstellen lassen und eine Entscheidungsposition bekleiden.

Nessrine Amri: Mein größtes Ziel ist es, während der Kommunalwahlen zu kandidieren und gewählt zu werden, damit ich anderen Frauen noch besser helfen kann. Ich möchte mich für die Rechte und die Gleichstellung der Frauen einsetzen und sie dazu ermutigen, im öffentlichen Leben und in der Politik aktiv zu werden.

 

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