Syrien liegt nach acht Jahren Krieg in Trümmern: Jedes dritte Haus ist beschädigt oder zerstört, in besonders umkämpften Gebieten wie der Stadt Rakka sind es vier von fünf. Schulen und Krankenhäuser, Elektrizitätswerke und Fabriken, Wasserleitungen und Straßen, Kulturdenkmäler und Bäckereien: zerschossen, zerbombt, geplündert. Weite Teile der größten Städte Syriens sind in einem Maß zerstört wie Berlin oder Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg.

Mehr als fünfeinhalb Millionen Menschen sind nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Nachbarländer geflohen, nach Europa hat es nur ein Bruchteil geschafft. Weitere sechseinhalb Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen und in anderen Landesteilen Zuflucht suchen, fast zwölf Millionen sind angewiesen auf humanitäre Hilfe, wie sie Oxfam und andere Nichtregierungsorganisationen leisten.

Syrien-Grafik

Hühner statt Hilfslieferungen

Zu ihnen gehört Nouf(*), 44. Vor den Kämpfen zwischen syrischen Regierungstruppen und ihren Verbündeten mit der bewaffneten Gruppierung IS und lokalen Milizen zwischen 2012 und 2016 um die Kontrolle der größten syrischen Stadt Aleppo ist sie mit ihren sieben Kindern und ihrem Ehemann aus ihrem Haus in der ländlichen Gemeinde Huajjenneh geflohen. Als sie zurückkehrten, waren die Tiere, von deren Erträgen Nouf und ihre Angehörigen vor dem Krieg leben konnten, weg – gestohlen in den Wirren der Kämpfe und der Flucht.

Nouf füttert ihre Hühner
Nouf(*) kehrte mit ihrer Familie nach Aleppo zurück. Mit Oxfams Unterstützung hält sie jetzt Hühner und macht sich von Hilfslieferungen unabhängig.

Schon vor dem Krieg haben wir nur ein bescheidenes Leben geführt, aber als wir zurückkehrten, waren wir abhängig von Hilfslieferungen und mussten mitunter mit leerem Magen zu Bett gehen.
Nouf (44)

Das ist bald Vergangenheit: Oxfam hat, auch dank der Unterstützung von Spender*innen, im Umland Aleppos 250 Familien mit Hühnern und Hühnerfutter versorgt. Auch Nouf soll davon profitieren: „Die Eier werden helfen, meine Kinder zu ernähren, und wenn wir den Rest verkaufen, können wir uns weitere Dinge leisten, die wir dringend brauchen – wie Kleidung oder Medikamente.“

Tankwagen oder Wasserleitungen

„Derart nachhaltige Verbesserungen wären auch bei der Infrastruktur wünschenswert“, erklärt Wolfgang Prangl, Leiter des Teams Humanitäre Hilfe bei Oxfam Deutschland. „Doch staatliche Geber zögern aus politischen Erwägungen, mehr als nur kurzfristig wirksame Nothilfe zu fördern.“

„In der Tat tragen die syrische Regierung und ihre Verbündeten einen großen Teil der Verantwortung für die Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur. Dazu kommt, dass ein unabhängiger Prozess zur Aufarbeitung der von allen Konfliktparteien begangenen Menschenrechtsverletzungen nicht in Sicht ist“, sagt Wolfgang Prangl. „Da könnte internationale Wiederaufbauhilfe leicht als voreilige Rehabilitierung eines problematischen Regimes aufgefasst werden.“ „Menschen retten: ja“, lautet deshalb die Formel der Geberstaaten, aber auch „Wiederaufbau finanzieren: eher nein“.

Was das konkret bedeutet, weiß Mohammad(*), 66, der mit seiner Familie während der Kämpfe in der Oase Ghuta nahe Damaskus überlebt hat. Nach den Kämpfen ging die Unsicherheit weiter. Das Abwassersystem war zerstört, nach Regenfällen stand oft die Straße unter Wasser, und in den Pfützen brüteten Insekten, die Krankheiten übertragen. Mohammad: „Lange Zeit war es sehr schwierig, sich mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen, dazu gehört auch Trinkwasser. Wir haben dann selbstgegrabene Brunnen in der Nachbarschaft genutzt, bei denen die Wasserqualität fragwürdig war.“

Oxfam versorgt in solchen Fällen Gemeinden mit Trinkwasser aus Tankwagen. In Ghuta hat Oxfam auch die Abwasserentsorgung instandgesetzt und so über 10.000 Menschen sicheres Wasser und Schutz vor Krankheiten ermöglicht. Das Problem: Während Trinkwasser aus Tankwagen als Nothilfe gilt, betrachten internationale Geldgeber die Instandsetzung von Wasserleitungen als Wiederaufbau. „Für das eine fühlt sich die internationale Gemeinschaft verantwortlich, dem anderen stehen politische Hürden im Weg“, sagt Wolfgang Prangl. Und weiter: „Das ergibt keinen Sinn. Ein Jahr lang 1.000 Liter Trinkwasser pro Tag in Tankwagen anzuliefern, kostet etwa 90.000 US-Dollar. Für etwa die Hälfte des Geldes kann man provisorisch eine Wasserleitung reparieren, die diese Menge täglich über fünf Jahre bereitstellt. Die Situation in Syrien ist dramatisch genug, auch ohne dass man sie zusätzlich bürokratisiert. Die internationale Gemeinschaft muss ihre Vorstellungen von Nothilfe und Wiederaufbau an die Bedürfnisse der Menschen anpassen.“

Dieser Artikel wurde zuerst in der Sommer-Ausgabe der EINS veröffentlicht.

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