Im November hat die EU-Kommission eine neue Handelsstrategie beschlossen. Die Medien haben hiervon kaum Notiz genommen. Das verwundert auch nicht, denn die neue Handelsstrategie ist weitgehend die alte. Zentrales Ziel bleibt eine weitgehende Öffnung der Märkte für europäische Unternehmen und Agrarbetriebe sowie der möglichst unbehinderte Zugang zu Rohstoffen und Energie. Dabei wird übersehen, dass die EU weitere wichtige politische Ziele mit handelspolitischen Instrumenten erreichen könnte.

Das verdeutlicht ein Blick Richtung Afrika. Die EU hat ein starkes Interesse an der politischen und ökonomischen Stabilisierung der Staaten auf dem Nachbarkontinent. Armut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Flüchtlingsströme, Zerfall der staatlichen Ordnung in immer mehr Ländern mögen als Stichworte genügen. Um diesen Entwicklungen zu begegnen, wäre eine kohärente Außen-, Sicherheits-, Handels- und Entwicklungspolitik der EU nötig. Doch die Handelspolitik spielt nicht mit. Dabei hätte der Handelsgigant EU mit seinen 500 Millionen Konsumenten enorme Möglichkeiten, zur Verbesserung der Lage in Afrika beizutragen: Gelänge es Afrika mit Hilfe der EU, seinen Anteil an den Weltexporten um nur einen Prozentpunkt zu erhöhen, hätte das zur Folge, dass der Kontinent über etwa 90 Milliarden Euro mehr Einnahmen im Jahr verfügt. Das ist fast das Dreifache der gesamten, diesem Kontinent zufließenden öffentlichen Entwicklungshilfe.

Das wäre ein lohnendes Ziel der EU-Handelsstrategie. Um es zu erreichen, bedürfte es keiner almosenartigen Zugeständnisse. Es genügte schon, dass die EU diejenigen Praktiken und Strukturen beseitigt, die den freien Handel verzerren und Entwicklungsländer benachteiligen. Oxfam vermisst insbesondere drei Punkte in der neuen Handelsstrategie der EU: So hätten wir gerne gelesen, dass die EU die zerstörerische Praxis der Exportsubventionen für landwirtschaftliche Überschussprodukte umgehend einstellt. Doch dieses Thema wird in dem Dokument nicht einmal erwähnt. Bekanntlich schafft es die EU noch immer nicht, ihre mit jährlich etwa 57 Milliarden Euro dotierte Förderpolitik für die Landwirtschaft so auszugestalten, dass Überschüsse vermieden werden. Damit diese auf den Weltmärkten abgesetzt werden können, werden sie noch ein weiteres Mal subventioniert. 2009 hat die EU 300 Millionen Euro in die Hand genommen, um überschüssige Milchprodukte auf dem Weltmarkt abzusetzen. Mit dieser Praxis treibt sie Kleinbauern in armen Ländern, die gegen die Dumping-Importe nicht konkurrieren können, in den Ruin. So fördert sie eine prekäre Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom Weltmarkt und torpediert das Entstehen nachhaltiger Existenzgrundlagen im Agrarsektor.

Zweitens hätten wir in der neuen Handelsstrategie gerne die Ankündigung gesehen, dass die EU ihre Zollstrukturen überarbeitet, um dem rohstoffverarbeitenden Gewerbe in den Entwicklungsländern Exportchancen einzuräumen. Während die EU Rohstoffe weitgehend zollfrei einführt, entfallen auf die meisten verarbeiteten Rohstoffe Zölle. Ausgenommen sind lediglich Exporte der am wenigsten entwickelten Länder sowie der Staaten, die sich in Freihandelsabkommen verpflichtet haben, ihre eigenen Zölle weitgehend abzuschaffen. So werden die verarbeitenden Industrien in der EU geschützt, aber viele Entwicklungsländer der Chance beraubt, den inländischen Abschnitt der Wertschöpfungskette zu verlängern. Die EU zementiert damit die Rohstoffabhängigkeit vieler Entwicklungsländer und verhindert, dass sich dort ein rohstoffverarbeitendes Gewerbe herausbildet, das vielen Menschen Arbeit bieten könnte.

Schließlich hätten wir aus der neuen Handelsstrategie gerne erfahren, wie die EU Bewegung in die festgefahrene Doha-Entwicklungsrunde bringen will. Zwar nennt die Strategie den Abschluss als Ziel, doch einen Weg dorthin sucht man vergeblich. Vor neun Jahren trafen sich die Wirtschafts- und Handelsminister der Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) in Doha, der Hauptstadt des Golf-Emirats Qatar, um eine neue Verhandlungsrunde einzuleiten. Die Runde hätte eigentlich 2005 abgeschlossen werden sollen. Aber wir warten noch immer. Um die Runde doch noch zu einem positiven Abschluss zu bringen, sollte die EU mehr Konzessionsbereitschaft gegenüber den Entwicklungsländern zeigen. Sie muss hinnehmen, dass es viele Sektoren gibt, in denen die Entwicklungsländer kostengünstiger produzieren. Die EU sollte ihre Märkte für entsprechende Produkte öffnen, anstatt mit handelspolitischen Schutzmauern den Strukturwandel aufzuhalten.

Aber offensichtlich hat die EU ihre handelspolitischen Weichen längst auf bilaterale Abkommen mit einzelnen Handelspartnern und dynamischen Wirtschaftsblöcken in Asien und Lateinamerika umgestellt. In Verhandlungen mit einzelnen Entwicklungsländern spielt die EU ihre starke Position aus und nutzt selektiv ihre Vorteile. Das multilaterale Handelssystem, das aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre errichtet wurde, wird durch solche bilateralen Vereinbarungen ausgehöhlt.

Kurz: Die EU-Politiken müssen besser aufeinander abgestimmt werden, insbesondere die Handels- und Entwicklungspolitik. Die Handelspolitik bietet enorme Möglichkeiten, um entwicklungspolitisch voranzukommen. Diese Hebel werden zu wenig angesetzt. Schlimmer noch: Mit manchen Handelsstrategien der EU wird hinten eingerissen, was in der Entwicklungszusammenarbeit vorne aufgebaut wird. Handelspolitik ist zu wichtig, um sie allein den Handelspolitikern zu überlassen

Dieser Artikel wurde von der vom Frankfurter Allgemeine Archiv zur Verfügung gestellt.
Zum Autor: Dr. Matthias von Bismarck-Osten ist Vorstandsvorsitzender der Hilfsorganisation Oxfam Deutschland e.V.