Das Paradigma der niedrigen Lebensmittelpreise

Seit Jahrzehnten werden sinkende bzw. niedrige Lebensmittelpreise im Verhältnis zum Einkommen als ein wesentlicher Bestandteil von wirtschaftlicher Entwicklung und eine wichtige Voraussetzung für Wirtschaftswachstum gesehen. Denn wer weniger Geld für Lebensmittel ausgibt, der*dem bleibt mehr Geld im Portemonnaie, um andere Konsumgüter zu kaufen. Für die Politik sind oftmals niedrige oder sinkende Lebensmittelpreise nicht nur aus Gründen der Ernährungssicherheit, sondern auch aus Gründen der nationalen bzw. politischen Sicherheit wichtig. Denn wenn die Lebensmittelpreise explodieren, kann es zu sozialen Unruhen kommen, wie auch die Nahrungsmittelkrise 2008 gezeigt hat. Folglich war die Devise, mehr Lebensmittel zu geringeren Kosten zu produzieren und dafür die Produktivität in der Landwirtschaft zu steigern („Grüne Revolution“), die Agrarmärkte zu deregulieren und den Agrarhandel zu liberalisieren. Ergebnis dieser Politik ist ein vom Agrobusiness dominiertes Ernährungssystem, das Hunger und Fehlernährung befördert, immer mehr Lebensmittel verschwendet, die Umwelt zerstört und die Menschen vielfach ausbeutet.

Wie Marktmacht, soziale Ungleichheit und niedrige Erzeugerpreise zusammenhängen

Steigende soziale Ungleichheit wird zunehmend als großes Problem erkannt. Um diese zu reduzieren, spielen die Steuer-, Finanzmarkt- und Handelspolitik genauso eine Rolle wie ein menschenwürdiges Existenzminimum, starke Gewerkschaften, Tarifverträge und eine hohe Tarifbindung. Wenig beleuchtet ist die Marktkonzentration in den Händen einiger weniger Konzerne. Im Agrar- und Ernähr­ungssektor ist sie seit den frühen 1900er Jahren ein Merkmal der industriellen Ernährungssysteme – vom Feld bis zum Teller. In welchem Zusammenhang steht sie nun mit sozialer Ungleichheit und Niedrigpreisen?

Erstens, Agrarkonzerne dominieren den Weltagrarhandel mit austauschbaren, billigen Massenwaren („Kommodifizierung“). Diese sind zunehmend der Logik des Finanzmarktes und der Profitmaximierung zugunsten der Aktionäre unterworfen („Finanzialisierung“). Der Verfall der globalen Agrarrohstoffpreise – mit Ausnahme von zyklischen Preisspitzen – bei gleichzeitig steigen­den Verbraucherpreisen zeigt, dass die agrarische Produktivitätssteigerung nicht den Landwirt*innen, sondern insbesondere den marktmächtigen Konzernen in der Lebensmittelkette zugutegekommen ist. Nach neuesten Berechnungen von BASIC ist in Deutschland das durchschnittliche Bruttoeinkommen der Höfe ohne Subventionen im Zeitraum 1995/97 bis 2015/17 um sechs Prozent gesunken. In allen europäischen Mitgliedsstaaten reichte der durchschnittliche Preis- und Ertragsanstieg nicht aus, um die höheren Kosten der Landwirt*innen zu decken. Für Länder mit geringem Pro-Kopf-Einkommen konnte ich keine entsprechen­den Zahlen von Forschungsinstituten wie dem ZEF oder UN-Organisationen wie der FAO finden.

Zweitens, der Schwerpunkt in Lebensmittelketten hat sich komplett verlagert: Von dem, was der Lieferant anbieten kann, zu dem, was der Einkäufer fordert. Die Konzerne im Lebensmittelhandel haben die Macht, Lieferanten und Landwirt*innen Kampfpreise bzw. Dumpingpreise oder Preise unterhalb des Wettbewerbsniveaus aufzuzwingen. Die Supermarktketten setzen unfaire Handelspraktiken ein, um Lieferanten gnadenlos im Preis zu drücken und schädigen am Ende auch die Verbraucher*innen. Die Schere zwischen Verbraucherpreisen und Erzeugerpreisen nimmt zu. In Deutschland ist der Anteil der landwirtschaft­lichen Verkaufserlöse an den Verbraucherausgaben für Nahrungsmittel seit 1950 von 62,6 Prozent auf 22,3 Prozent gesunken. Global ist ihr Anteil am Endverbraucherpreis im Zeitraum 1995-2011 auf 14 Prozent gesunken, während die Supermarktketten ihren Anteil auf 30 Prozent erhöhen konnten. Auch im Corona-Jahr 2020 haben die Supermarktketten ihre Umsätze gesteigert, während Plantagenarbeiter*innen um ihre Existenz kämpften.

Drittens, die Einkäufer*innen der mächtigen Konzerne fordern in den absatzstarken Segmenten die Lieferung von großen Mengen zu Niedrigpreisen und die ständige Bereitstellung von Waren. Der Druck auf Lieferanten und Landwirt*innen, immer größer zu werden oder sich in größeren Einheiten zusammenzuschließen, nimmt zu. Wenn ein Lieferant hauptsächlich von einem Anbieter abhängig ist oder wenn ein Lieferant sehr groß ist, sind gemäß einer ILO-Umfrage niedrigere Stundenlöhne für Arbeiter*innen zu beobachten. Wer nicht über ausreichend Kapital als Puffer verfügt, um Niedrigpreis­phasen zu überstehen, wird gezwungen aufzugeben. Kleinere Lieferanten, die nicht entsprechende Mengen und Lagerkapazitäten vorhalten können, werden vom Markt verdrängt. Die Machtkonzentra­tion entlang der ganzen Lebensmittelkette nimmt zu, bis zum Feld. Bereits heute bewirtschaftet ein Prozent der Betriebe 70 Prozent des weltweiten Ackerlandes – und dies mit einem hohen Einsatz an Düngemitteln und Pestiziden.

Wie Niedrigpreise zu Umweltzerstörung und Krankheiten beitragen

Die Weichen für das globale Ernährungssystem wurden in einer Zeit gestellt, als die mangelnde Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ein Problem war, die Umweltzerstörung jedoch noch weit weniger beachtet wurde. Die Situation hat sich geändert – nicht erst seit gestern, aber die Politik hält immer noch an der Ausrich­tung an dem auf Niedrigpreisen basierenden globalen Wettbewerb und dem Produktivitäts-Paradigma fest. In zwei wissenschaftlichen Veröffentlichungen werden die Auswirkungen dieser Ausrichtung für die Umwelt und die menschliche Gesundheit beschrieben: Chatham House-Bericht und Produktivitäts-Paradox. Die Essenz: Das Paradigma der niedrigen Lebensmittelpreise und der Produktivitätsfokus in der Landwirtschaft machen das Ernährungssystem insgesamt ineffizient mit hohen Folgekosten für Mensch und Umwelt:

  • Ein globaler Wettbewerb basierend auf Niedrigpreisen befördert eine vermeintlich effiziente Produktion in Form einer großflächigen, industriellen Landwirtschaft. Eine „Landschaft der Monokulturen“ sowie der hohe Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln dezimieren die biologische Vielfalt, zerstören die Böden und belasten Gewässer.
  • Das globale Produktionssystem basiert auf komparativen Vorteilen und damit auf Spezialisierung. Die Folge: Die weltweite Kalorienproduktion ist genetisch und geographisch auf wenige Agrarrohstoffe konzentriert. Das heißt, die Lebensmittelproduktion ist krisen-, schädlings- und krankheitsanfällig.
  • Es gibt einen zu hohen Verbrauch von Kalorien und zu geringen Verbrauch von Nährstoffen. Kalorienreiche Produkte der Ernährungsindustrie sind billiger als nährstoffreiche Lebensmittel, die weniger verfügbar sind (doppelte Last der Fehlernährung). Gleichzeitig sind die Kosten für die Erzeugung und den Verzehr von Fleisch gesunken.
  • Getreide – insbesondere Soja und Mais – sind ausreichend billig, um damit Tiere füttern zu können. Das heißt, Niedrigpreise für Futtermittel haben zur Erhöhung des Tierbestands beigetragen.
  • Da die Lebensmittelpreise gesunken sind, ist es zunehmend wirtschaftlich, Lebensmittel zu verschwenden. Die Lebensmittelverschwendung steigt schneller, als die Erträge zunehmen.
  • Mit der steigenden Pro-Kopf-Verfügbarkeit von Lebensmitteln, inklusive Fleisch, sind die Treibhausgasemissionen gestiegen (direkt und indirekt durch Landnutzungsänderung).

Der Weg in die Zukunft

Die Fokussierung auf Produktivitätssteigerung, der Preis-basierte globale Wettbewerb und lange Lieferketten, die die Transparenz verringern, fördern die Externalisierung von sozialen und ökologischen Produktionskosten. Um das Marktversagen des Ernährungssystems zu korrigieren, müssen die sozialen und ökologischen Kosten in die Lebensmittelpreise einbezogen werden. Solange die Preise nicht die sozialen und ökologischen Kosten widerspiegeln, wird es keine Nachhaltigkeit im Lebensmittelbereich geben können. Der Weg in die Zukunft könnte daher so aussehen:

  • Eine ethische Preisbildung von unten nach oben ist eine Voraussetzung dafür, dass Landwirt*innen gerechte Preise und Plantagenarbeiter*innen existenzsichernde Löhne erzielen können. Preise müssen auch im Rahmen menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten eine zentrale Rolle spielen. Höhere Produktionskosten, die eine sozial-ökologische Neuorientierung der Landwirtschaft mit sich bringt, müssen entlang der Lieferkette an die Käufer*innen weitergegeben werden können. Ein Verbot des Einkaufs unterhalb der Produktionskosten könnte dies sicherstellen. Ein beachtlicher Teil der sozialen und ökologischen Kosten in der Produktion könnte über eine gerechte Neuverteilung der Wertschöpfung innerhalb der Lebensmittelkette aufgefangen werden.
  • Solange nicht alle unfairen Handelspraktiken gesetzlich verboten werden, können marktmächtige Konzerne ihre Macht ausnutzen, um ihre Kosten und Risken auf Lieferanten, Landwirt*innen und Arbeiter*innen abzuwälzen. Verpflichtende menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten müssen konkrete Vorgaben für die Einkaufspraktiken dieser Konzerne machen. So kann erreicht werden, dass beispielsweise Kosten für existenzsichernde Löhne als nicht verhandelbarer Anteil eingepreist werden. Wettbewerbsvorteile, die sich aus unsozialem und umweltschädlichem Marktverhalten ergeben, sollten auch im Kartellrecht reglementiert werden. Mit missbrauchsorientierten Regeln und verhaltensorientierten Abhilfemaßnahmen allein lässt sich das Problem allerdings nicht lösen. Unfaires Verhalten ist die Folge eines strukturellen Markt- und Machtungleichgewichts. Die Politik sollte bei der 11. Novellierung des Kartellrechts ein Instrument einführen, das eine Entflechtung bzw. Zerschlagung von großen Unternehmen möglich macht, unabhängig davon, ob sie ihre Marktmacht missbrauchen oder nicht. Auch der Präsident des Bundeskartellamts hätte eine solche missbrauchsunabhängige Entflechtung gerne im Werkzeugkasten seiner Behörde.
  • Die Politik sollte agrarökologische Ansätze unterstützen, weil Agrarökologie kürzere Wege, enge Stadt-Land-Verbindungen und ein solidarisches Miteinander von Verbraucher*innen, handwerk­lichen Lebensmittelhersteller*innen und bäuerlichen Produzent*innen bzw. solidarische Vermark­tungsnetzwerke fördert. Lokale und regionale Märkte, welche die Arbeit der Erzeuger*innen mit gerechten Preisen honorieren und vielfältige Lebensmittel bereitstellen, befördern eine ortsnahe Versorgung mit frischen, gesunden und vielfältigen Lebensmitteln. Aus verschiedenen Studien geht hervor, dass Agrarökologie einen großen Beitrag zur nachhaltigen Lösung des Welthungers leistet.

11 Kommentare

Hallo liebes Team,

es wird dabei vergessen, das sich nicht jeder hier in Deutschland teure Lebensmittel leisten kann. Auch ohne Fleisch.
Kein einfacher Arbeiter, Hartz 4 Empfänger,kleiner Rentner oder Schwerkranker der hohe Ausgaben für Medikamente hat, würde da auf die Idee kommen, die Lebensmittelpreise wären zu
niedrig. Mit einen kleinen Einkommen kann man sich nicht die Lebensmittel von den Landwirten und Wochenmärkte leisten.
Noch dazu sind bei uns die Stromkosten und Gaspreise und Benzinpreise sehr hoch.
Auch in Deutschland gibt es Arme und Geringverdiener.Die schaun müssen, wie sie über die Runden kommen.
Da wird jeder Euro umgedreht. Und am Ende vom Monat bleibt meist nichts übrig.
Und dass, bei einen normalen Einkauf.
Wie soll dann Geld für höherwertige Lebensmittel übrig bleiben.

Und selbst wenn diese sich mit Alkohol, Zigaretten und schlechten Essen vollstopfen. So ist das meistens der Frust, über das Leben. Am besten ist es, man lebt selbst einmal so. Und zeigt den Familien wie man trotz schlechten Einkommen gesund Leben kann.Und zwar
so, das am Ende noch was übrig bleibt.
Mit einen Guten Einkommen braucht man sich keine Gedanken machen, wie man wie man über die Runden kommt
Da kann man locker Klimaneutral leben und Geld für teure Lebensmittel ausgeben.
Auch hohe Stromkosten usw. steckt man gut weg.
Mit freundlichen Grüßen
Aßmann Renate.

Sehr geehrte Frau Aßmann,
ich gebe Ihnen Recht, daß viele Menschen nicht genug Geld haben um sich teurere Lebensmittel leisten zu können. Aber es kann nicht die Aufgabe der Erzeuger sein, billige Lebensmittel zu verschenken und sich selber durch immer mehr Arbeit aus dem sozialen Leben abzukoppeln, weil man sich sonst selbst auch nicht mehr über Wasser halten kann. Dafür muss der Staat aufkommen. Wenn die Erzeugerpreise ausreichen, alle Kosten inkl einem Betriebsgewinn der auch für Ersatz Investitionen reicht, zu decken, kann sich der Staat dafür die Ausgleichszahlungen für die schlechten Preise sparen.

Liebe Frau Aßmann,

vielen Dank, dass Sie auf die schwierigen Lebensbedingungen von vielen Menschen in Deutschland aufmerksam machen. In unserem Bericht "Das Ungleichheitsvirus" führen wir aus, dass in fast allen Ländern inkl. in Deutschland die finanziell am schlechtesten gestellten Menschen aufgrund der Pandemie noch weniger Einkünfte hatten. Oxfam hat es sich zur Aufgabe gemacht, soziale Ungleichheit zu bekämpfen, um Armut zu überwinden. Wir fordern eine soziale Grundsicherung, die Ungleichheit verringert, Sicherheitsnetze für die bedürftigsten Menschen schafft und flächendeckend und dauerhaft aufgebaut wird. Ich habe auch in meinem Blog-Artikel auf die Notwendigkeit eines menschenwürdigen Existenzminimums hingewiesen. https://www.oxfam.de/system/files/20141029-10-schritte-gegen-soziale-ungleichheit.pdf.

Mir geht es in meinem Artikel um die Einkaufspreise, d.h. die Preise, die Supermarktketten oder Lebensmittelkonzerne ihren Lieferant*innen und Landwirt*innen zahlen. Wenn sich an der ruinösen Preispolitik nichts ändert, wird es weiterhin prekäre Beschäftigung in der Land- und Ernährungswirtschaft geben. Deswegen beschäftigen sich auch Gewerkschaften in Deutschland mit unfairen Preisen entlang der Lebensmittelkette. Unsere Forderung nach einem Verbot des Einkaufs unter Produktionskosten wird auch vom Verbraucherzentrale Bundesverband unterstützt. Unser Ziel ist, dass es zu einer fairen Verteilung der Wertschöpfung innerhalb der Lieferkette kommt. Kann ich ausschließen, dass die Lebensmittelpreise etwas steigen? Nein, aber wir unterstützen politisch die Wohlfahrtsverbände, die sich für eine Anhebung der ohnehin zu niedrigen Grundsicherung einsetzen. Ulrich Schneider von der AWO äußerte sich 2020 zu Billiglebensmitteln einmal folgendermaßen: "Erst wird das #Rentenniveau abgesenkt, dann die #HartzIV -Sätze kleingerechnet und dann schließlich erklärt, wie bräuchten #Billiglebensmittel, weil die Armen sich sonst nicht mehr ernähren könnten. Bei der zynischen Nummer spielen wir definitiv nicht mit".

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