Nur noch zehn Jahre bis 2030: Dann soll die Vision einer nachhaltigen Welt ohne Hunger wahr werden. So lautete das Versprechen der Staats- und Regierungschefs, als sie 2015 die globalen Nachhaltigkeitsziele verabschiedeten. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Es deutet im Moment nichts darauf hin, dass dieses Ziel erreicht wird. Denn der Hunger geht nicht zurück, im Gegenteil. Für die letzten drei Jahre weist die Statistik wieder eine steigende Zahl Hungernder aus. 821 Millionen Menschen leiden an Hunger, fast so viele wie im Jahr 2010.(1) Sie sind chronisch unterernährt. Wer «nur» einige Monate hungert, wird von der Statistik nicht erfasst. Bezogen auf die Weltbevölkerung ist der Anteil der hungernden Menschen in den letzten dreizehn Jahren (2005 bis 2018) nur um 3,7 Prozent auf 10,8 Prozent gesunken. Als «moderat ernährungsunsicher» gelten jene Menschen, die nicht genug zu essen haben und/oder sich nicht ausgewogen ernähren können. Letzteres trifft für insgesamt über zwei Milliarden Menschen oder 26,4 Prozent der Weltbevölkerung zu. Genug und gut essen: Jeder vierte Mensch weltweit kann das nicht! Das Risiko, unter Ernährungsunsicherheit zu leiden, ist bei Frauen zehn Prozent höher als bei Männern. Der Anteil von Frauen an den hungernden Menschen weltweit beträgt derzeit 51 Prozent.(2)

Das gegenwärtigen Agrar- und Ernährungssystem ist also nicht in der Lage, für eine gute Ernährung aller Menschen zu sorgen. Das belegen auch viele wissenschaftliche Studien.(3) Was läuft falsch in unserem Ernährungssystem? Im Folgenden werden Zahlen und Fakten erläutert, die Schlaglichter auf aktuelle Probleme und Trends werfen.

Der Welternährungsmythos

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) behauptet: «Bis 2050 wächst die Weltbevölkerung auf 10 Milliarden Menschen. Um ausreichend Ernährung für alle zu sichern, muss die landwirtschaftliche Produktion um 70 Prozent gesteigert werden.» (4) Ähnliches hört man oft. Die FAO hat der Interpretation dieses Wertes entschieden widersprochen. Denn die Vorhersage basiert nicht nur auf der Nachfrage nach Lebensmitteln, sondern auch nach Futtermitteln, Agrarkraft- und -rohstoffen für andere industrielle Nutzungen und, daraus abgeleitet, der prognostizierten Steigerung der Weltagrarproduktion. Zudem hält sie den Indikator «landwirtschaftliche Produktion» sogar für «wenig aussagekräftig», wenn es um eine sichere Ernährung für alle geht. Die zugrunde liegende Berechnung wurde zudem aktualisiert und auf fünfzig Prozent korrigiert.(5)

Die FAO-Voraussage beruht auf der Annahme, dass es beim «Business as usual» bleibt. Das muss und sollte jedoch nicht sein, auch aus Umwelt- und Klimaschutzgründen nicht.(6) Die Konkurrenz zwischen «Teller, Tank und Trog» kann erheblich beschränkt werden, indem die industrielle Fleischproduktion gesenkt wird, weniger Lebensmittel verschwendet werden und die Agrarkraftstoffproduktion nicht mehr staatlicher Förderung unterliegt.(7) Der «70-Prozent»- Welternährungsmythos führt aber noch aus einem anderen Grund in die Irre. Er suggeriert, dass eine höhere Produktion weniger Hunger bedeutet. Menschen hungern jedoch, weil sie extrem arm sind und sich keine Lebensmittel leisten können. Sozial ausgegrenzte und marginalisierte Gruppen tragen ein besonders hohes Hungerrisiko.(8) Jenen, die den Welternährungsmythos bemühen, geht es in erster Linie um die Profite von Agrarkonzernen und weniger um bessere Lebensbedingungen für Hungerleidende.

Nicht haltbar ist auch die Behauptung, die EU müsse die Welt ernähren. Tatsache ist, dass die EU insgesamt mehr Agrarprodukte importiert als exportiert(9), wobei die Differenz in den letzten Jahren abgenommen hat. Bei Mais und Sorghum ist die EU Nettoimporteur, bei Weizen und Gerste Nettoexporteur. Bemerkenswert ist, dass sie in der Nahrungsmittelkrise 2007/2008 netto mehr als zehn Millionen Tonnen Getreide importiert hat. Die rasant steigenden Preise für Lebensmittel hatten von Asien über Afrika bis in die Karibik zu Hungerrevolten geführt. Die weltweiten Lagerbestände von Weizen und Mais waren damals sehr niedrig. Die EU verschärfte als drittgrößter Weizenexporteur die Krise, indem sie weniger Weizen exportierte, aber mehr importierte. Gleichzeitig importierte sie netto besonders viel Mais, und zwar nicht nur in den Krisenjahren 2007/2008, sondern auch 2012/2013 und 2013/2014, als die Lagerbestände immer noch tief waren. Die starke Abhängigkeit vom Weltmarkt beziehungsweise von wenigen Exportländern hat sich in der Krise als fatal für die Länder des globalen Südens erwiesen.

Große Abhängigkeit von wenigen Exportländern

In den 1980er und 1990er-Jahren bestand ein permanentes Überangebot an Agrarprodukten, das die Preise auf dem Weltmarkt drückte. Agrarsubventionen in Milliardenhöhe heizten die landwirtschaftliche Produktion in den Industrieländern massiv an. Wegen der niedrigen Agrarpreise (Agrarkrise) gab es keinen Anreiz, in die einheimische Nahrungsmittelproduktion zu investieren. Weder die Regierungen im globalen Süden noch die Geldgeber aus dem

Norden förderten die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Gleichzeitig machte die Liberalisierung und Deregulierung ihrer Landwirtschaft – forciert durch die marktradikale Politik des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der WTO («Washington-Konsens») sowie durch vielzählige WTOplus-Freihandelsabkommen – viele Länder des globalen Südens von Nahrungsmittelimporten abhängig. In den 1970er-Jahren war der afrikanische Kontinent noch Nettoexporteur von Nahrungsmitteln, 2010 jedoch Nettoimporteur mit einem Defizit von 22 Milliarden US-Dollar.(10) Lokale Ernährungssysteme wurden zerstört und kleinbäuerliche Produzenten durch Billigimporte vom Markt verdrängt.

Der Anteil des Getreides, das international gehandelt wird, ist stetig gestiegen. Er beträgt gegenwärtig bei Weizen 23, bei Mais 15 und bei Reis 9 Prozent.(11) Wie groß der Anteil grenzüberschreitenden Handels zwischen Unternehmen ist, die zum gleichen Konzern gehören, ist unbekannt. Er wird allgemein auf ein Drittel geschätzt, kann aber deutlich darüber liegen.(12) So stellen Exporte und Importe von (in- und ausländischen) international tätigen Konzernen über siebzig Prozent des gesamten Warenhandels der USA dar.(13) Nur wenige Länder produzieren in großem Umfang für den Weltagrarmarkt. Bei Weizen und Reis entfallen 72 Prozent auf die jeweils fünf größten Exportländer. Bei Mais beläuft sich der Anteil der vier größten Exportländer sogar auf 88 Prozent. Führen diese (14) Hauptexportländer Exportverbote ein, fördern massiv die Herstellung von Agrosprit oder erleiden erhebliche Ernteverluste, kann dies dramatische Auswirkungen auf die Weltmarktpreise haben, wie die Nahrungsmittelkrise 2007/2008 gezeigt hat. Betroffen waren insbesondere jene Länder des globalen Südens, die sehr stark vom Weltmarkt abhängig waren. Mehrere fördern deswegen nun stärker die einheimische Nahrungsmittelproduktion, allerdings allzu häufig zulasten der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, der Umwelt und der Tiere.

Förderung der industriellen Landwirtschaft und der «grünen Revolution»

In den letzten fünfzig Jahren wurden immer mehr Reis-, Weizen- und Mais-Hochertragssorten eingesetzt. Ihr Anteil stieg von 1961 bis 2013 von 66 auf 79 Prozent der gesamten Getreidefläche. Im gleichen Zeitraum sank die Anbaufläche von Gerste, Hafer, Roggen, Hirse und Sorghum von 33 auf 19 Prozent.(14) Auch in Afrika ist der Anbau sehr robuster, nährstoffhaltiger Getreidesorten wie (Finger-)Hirse und Sorghum infolge der Expansion von Mais zurückgegangen.(15) Der Grund dafür: Regierungen in Nord und Süd förderten die «grüne Revolution», um die landwirtschaftliche Produktion zu erhöhen. In erster Linie wurden Getreidesorten gezüchtet und gentechnisch veränderte Sorten entwickelt, die die Produktivität erhöhen können, wenn Mineraldünger und Pestizide eingesetzt werden. Das ist ganz im Interesse von Agrarkonzernen wie Bayer, die weltweit mit dem Verkauf von kommerziellem Saatgut und Pestiziden Profite machen. Mit neuen Gentechnikverfahren wie «Gene Drives» sollen wildlebende Organismen verändert und manche sogar ausgerottet werden.(16) Regierungen schützen Konzernprofite zudem durch Saatgutpatente und strikte Saatgutsetze wie das Internationale Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen aus dem Jahr 1991 (UPOV91) zulasten (klein)bäuerlicher Produzenten. Diese sind davon abhängig, Saatgut mit anderen Betrieben zu tauschen, damit zu handeln und wiederzuverwenden.(17)

Im Zuge der «grünen Revolution» stiegen die Erträge und die Getreideproduktion insgesamt, aber nicht überall. Eine umfassende Studie über die weltweite Ertragsentwicklung von 1961 bis 2008 zeigt, dass bei 24 bis 39 Prozent der Mais-, Reis-, Weizen- und Sojaanbauflächen die Erträge nicht stiegen, nach anfänglichem Anstieg stagnierten oder zusammenbrachen.(18) Auch nehmen Resistenzen bei Unkräutern immer mehr zu. Je mehr Herbizide eingesetzt werden, desto mehr Resistenzen entstehen.(19) Reichen die Erträge nicht aus, um die hohen Produktionskosten als Folge teurer Betriebsmittel und Maschinen zu decken, droht eine ausweglose Verschuldungsspirale. Durch die Klimakrise steigt für kleinbäuerliche Produzenten zusätzlich das Risiko von Ernteausfällen und Tierverlusten, fortschreitender Bodendegradierung und Wasserknappheit. Besonders gefährdet sind marginalisierte kleinbäuerliche Produzenten, die ohnehin in großer Armut leben. Sehr verwundbar sind auch jene, die sich auf Rat von Regierungen, Konzernen oder Stiftungen auf einzelne Hauptprodukte oder Wertschöpfungsketten spezialisieren und (vermehrt) Hybridsaatgutsorten einsetzen, die anfälliger sind bei Dürre und Hitze und nicht an ihre Lebensumstände angepasst.(20) Auch unter dem Deckmantel einer «klimasmarten Landwirtschaft» wird die «grüne Revolution» gefördert.

Die «grüne Revolution» fördert die landwirtschafliche Uniformität beim Saatgut und im Anbau und verdrängt kleinbäuerliche Betriebe. So erklärt Bayer denn auch: Eine «grüne Revolution wird man nicht mit Kleinbauern machen».(21) Verdrängt werden sie auch durch die industrielle Massentierhaltung.(22) Ist ihre Existenzgrundlage zerstört, finden sie in vielen Ländern kein anderes existenzsicherndes Auskommen. Die Folgen für die Umwelt, die Tiere und die Gesundheit sind gravierend: Grundwasserspiegel sinken, die biologische Vielfalt und die Sortenvielfalt werden dezimiert, Tiere misshandelt, Tierrassen sterben aus, Böden degradieren oder sind überdüngt. In Afrika hat sich seit Mitte des 1990er-Jahre die Bodenqualität bei bereits 65 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Böden verschlechtert, 72 Prozent davon in Trockengebieten. Degradiert sind auch 31 Prozent des von Pastoralisten genutzten Dauergrünlandes.(23) Ihre Existenz ist ohnehin durch die kommerzielle Landwirtschaft stark gefährdet. Durch den Einsatz hochgiftiger Pestizide ist die Gesundheit der kleinbäuerlichen Produzenten und Arbeiterinnen und Arbeiter in Plantagen stark beeinträchtigt. Schätzungsweise sterben jährlich zwischen 20.000 und 40.000 Menschen durch Pestizidvergiftungen am Arbeitsplatz.(24) Trotzdem dominiert die Denkweise der «grünen Revolution» nach wie vor die internationale Agrarforschung und das Handeln der Politik, auch in der Entwicklungszusammenarbeit.

Agrobusiness-Förderung statt Menschenrechte

Ende der 1990er-Jahre begann in der Entwicklungszusammenarbeit die Kooperation mit dem Agrobusiness und verstärkte sich nach der Explosion der Nahrungsmittelpreise 2007/2008. Agrarunternehmen betrachteten die Geldgeber als willfährige Steigbügelhalter, um neue Märkte zu erschließen und gute Kontakte mit Regierungsbehörden in Entwicklungsländern zu etablieren. Die auf dem Weltwirtschaftsforum 2011 verabschiedete «Neue Vision für die Landwirtschaft»

gab den Impuls zur Gründung der Investitionsplattform «GROW Africa» sowie öffentlich-private Partnerschaften (PPP) wie die «Neue Allianz für Ernährungssicherheit» der G8 und die «German Food Partnership» des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Bayer und BASF gehörten zu den ersten, die von dieser strategischen Partnerschaft mit dem BMZ profitierten.(25) In mehreren afrikanischen Ländern werden – über die «Neue Allianz für Ernährungssicherheit», die »Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika“ (AGRA) und der Weltbank – Wachstumskorridore gefördert. Dieses Konzept sieht vor, dass große Gebiete, meist mehrere hunderttausend Hektaren, für die großflächige industrielle Landwirtschaft bereitgestellt werden. Allein in fünf Ländern – Tansania, Malawi, Burkina Faso, Mosambik, Ghana – belief sich die Fläche dieser Wachstumskorridore in der Startphase der Projekte auf insgesamt 1,26 Millionen Hektaren.(26)

Dabei sind die Ergebnisse der Kooperationen mit Unternehmen ernüchternd, wie offizielle Evaluierungen zeigen.(27) Menschenrechtliche Risiken werden nicht systematisch überprüft und in extremer Armut lebende Bevölkerungsschichten nicht gefördert. Die Interessen der Unternehmen bestimmen die Projektinhalte, -standorte und Zielgruppen. Von einem positiven Beitrag der Kooperationsprojekte zu inklusivem Wirtschaftswachstum und Armutsverminderung Effekten kann nicht per se ausgegangen werden. Die ökologische Nachhaltigkeit spielt praktisch keine Rolle. Anstatt die Kooperationen infrage zu stellen, werden sie noch ausgeweitet. Mit dem Globalvorhaben «grüne Innovationszentren in der Agrar-und Ernährungswirtschaft», dem Leuchtturmprojekt von Entwicklungsminister Gerhard Müller, werden weiterhin Ansätze der «grünen Revolution» gefördert.(28) Die Förderung privater Unternehmensinvestitionen wird zur neuen Priorität erhoben. Geldgeber inklusive BMZ wollen nun auch noch Unternehmensinvestitionen mit Entwicklungsgeldern in Milliardenhöhe mobilisieren.(29) So sollen bis 2020 im Rahmen des europäischen Investitionsplans 3,35 Milliarden Euro Entwicklungsgelder dafür ausgegeben werden. Dies ist fehlinvestiertes Geld, das den Unternehmen, aber nicht den Menschen hilft, die unter Armut und Hunger leiden. Es befördert die soziale Ungleichheit im Ernährungssystem.

Ungleiche Landverteilung und zunehmende Landkonflikte

Die soziale Ungleichheit zeigt sich besonders eklatant bei den Landbesitzverhältnissen. Das Land ist sehr ungleich verteilt und wird immer knapper. Wo postkoloniale und patriarchale Strukturen bestehen und das exportorientierte Agrobusiness die Landwirtschaft dominiert, ist die Landverteilung besonders ungerecht. In Lateinamerika verfügt ein Prozent von supergroßen Betrieben über genauso viel Land wie die restlichen 99 Prozent. Die Konzentration des Landbesitzes ist dort höher als vor den Landreformen in den1960er-Jahren. Kleine Familienbetriebe, die 80 Prozent der Agrarbetriebe ausmachen, verfügen nur über 13 Prozent des produktiven Landes. Frauen besitzen weniger Land als Männer.(30) In Südafrika befanden sich nach dem Ende der Apartheid über 86 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Hand einer weißen Minderheit. In Kenia besitzen Schätzungen zufolge drei mächtige Familien mehr als 400 tausend Hektar, während über elf Millionen Menschen im ländlichen Raum weniger als einen Hektar besitzen.(31) In Sachen Landkonzentration steuern wir wieder auf feudale Verhältnisse zu.(32) Trotzdem wird kaum über eine Umverteilung oder Landreformen diskutiert. Mit der seit 2008 zunehmenden Vertreibung von Menschen von ihrem Land («Landgrabbing») ist der Schutz bestehender Landrechte auf politischer Ebene in den Vordergrund getreten.

Denn die Nahrungsmittelkrise im Jahr 2008 hat dazu geführt, dass Investoren umfangreiche Landflächen pachteten oder kauften. 59 Prozent des Landes waren vorher in der Hand von Gemeinden oder des Staates.(33) Heute ist nur ein Fünftel des Landes, das ländliche und indigene Gemeinden in Ländern des globalen Südens bewirtschaften, rechtlich vor Landraub durch Regierungen und Unternehmen geschützt.(34) Dabei bildet es die Lebensgrundlage von 2,5 Milliarden Menschen. Eine FAO-Studie bestätigt, dass großflächiger Landerwerb durch Investoren den Gemeinden schadet.(35) Er beinhaltet häufig großzügige Wasserrechte («Watergrabbing») und geht mit grossflächiger, industrieller Landwirtschaft (Anbau von Zuckerrohr, Soja, Palmöl usw.) einher. Konzerne machen Wasser immer mehr zum Luxusgut für Menschen.(36) Menschen, die das Land nutzen, werden vertrieben, darunter Pastoralisten, kleinbäuerliche Produzenten und Indigene. Das eigene Land zu verteidigen, ist lebensgefährlich. Im Jahr 2018 wurden jede Woche mehr als drei Menschen ermordet, weil sie ihr Land verteidigen oder die Umwelt schützen wollten.(37) Unzählige werden verfolgt und kriminalisiert. Besonders gefährlich erweist sich Widerstand gegen vermeintliche «Entwicklungsprojekte» von Bergbaukonzernen, des Agrobusiness und von Konzernkonsortien im Wasser- und Staudammbereich.

Marktmacht, Ausbeutung und Diskriminierung im Ernährungssystem

Bäuerliche Produzentinnen und Produzenten sowie auf Plantagen Arbeitende werden im globalen Süden systematisch diskriminiert, sei es durch ungerechte Landgesetze, Saatgutpatente, ruinöse Abnahmepreise und Hungerlöhne oder durch Unterdrückung von Gewerkschaften, oligopolistische, vom Agrobusiness dominierte Märkte, korrupte Eliten, Polizeigewalt oder Unrechtsjustiz.(38) Frauen sind besonders betroffen, weil patriarchale Strukturen ihre Teilhabe erschweren oder gar unterbinden. Auch Migrantinnen und Migranten können sich kaum organisieren und genießen meistens keinerlei Rechtsschutz. Armut und Hunger hängen eng zusammen: Wer extrem arm ist und wenig Geld verdient, hat häufig nicht genug zu essen. Einer Oxfam-Studie zufolge haben 56 Prozent der befragten Arbeiterinnen und Arbeiter in indischen Assam-Teeplantagen nicht ausreichend Nahrung, mehr als ein Viertel leidet unter Hunger.(39) Die größte Gruppe von Hungernden stellen kleinbäuerliche Produzenten dar. Ihre Einnahmen aus dem Verkauf der Ernte reichen nicht, um das ganze Jahr Lebensmittel für die Familie zu kaufen, und sie können ihr Getreide häufig nicht lagern, um Hungermonate zu überbrücken. Die exportorientierte Agrarpolitik und die Billigexporte der Industrie- und Schwellenländer (Billigfleisch aus Massentierhaltung usw.), der forcierte Abbau von Schutzzöllen durch unfaire Handelsabkommen, die politisch geförderte Überschussproduktion und die Machtungleichgewichte im Ernährungssystem verhindern, dass sie faire, kostendeckende Preise für ihre Lebensmittel erhalten, sofern sie überhaupt einen Absatzmarkt finden.

Einige wenige globale Konzerne und finanzkräftige Kapitalanleger bestimmen die Agrarmärkte und die großen Trends beim Nahrungsmittelkonsum. Hunderte «agrarbasierte Investmentfonds» verwalten etliche Milliarden Dollar an Vermögen. Im Jahr 2019 wurde das 6-fache der weltweiten Weizenproduktion an den US-Börsen gehandelt. An der Chicagoer Terminbörse stieg der Anteil der reinen Spekulation am Weizenhandel von 12 Prozent Mitte der 1990er-Jahre auf 74 Prozent Ende 2019.(40) Investmentfirmen wie BlackRock sind an Konzernen entlang der ganzen Lieferkette beteiligt. Mit dem Instrument der Konzernklagerechte («Investor State Dispute Settlement») werden Regierungen eingeschüchtert und unter Druck gesetzt, während Betroffene von Menschenrechtsverstössen sich rechtlich nicht gegen die Konzerne wehren können. Konzerne wie BASF nutzen Steueroasen und Steuertricks, wodurch dem Staat Steuern in Milliardenhöhe für eine gemeinwohlorientierte (Agrar-)Politik und eine Ernährungswende fehlen.(41) Seit den 1980er-Jahren kommt es vermehrt zu Fusionen und Übernahmen. Durch die Finanzierung von Megafusionen entstehen immer größere Banken und Konzerne. Weniger, dafür mächtigere Konzerne bedeuten mehr Profite für unersättliche Investoren.

Bauern und Bäuerinnen sowie Arbeiterinnen und Arbeiter sind als schwächste Glieder in der Lieferkette am stärksten von der Marktkonzentration im Agrar- und Ernährungssektor betroffen und weitestgehend machtlos und schutzlos der Marktmacht der Konzerne ausgeliefert. Die Schere zwischen ihren Anteilen an den Verkaufserlösen und jenen der Konzerne klafft immer weiter auseinander. Zwischen 1995 und 2011 ist der Anteil der Supermärkte am Endverbraucherpreis um 11,5 Prozent gestiegen, während jener der bäuerlichen Produzenten um 13,9 Prozent gesunken ist.(42) In Ecuador ist aufgrund des brutalen Preiskampfs der Supermärkte die Zahl der Bananen produzierenden Familienbetriebe innerhalb von nur vier Jahren (2015 bis 2018) um 60 Prozent zurückgegangen.(43) Der Markt gewährleistet keine Fairness im Lebensmittelhandel. Die Regierungen unternehmen nichts oder viel zu wenig gegen den Verkauf von Lebensmitteln zu Dumpingpreisen, sowohl national als auch international.

Fazit

Enge politische Verflechtungen zwischen dem Agrobusiness, der Politik und staatlichen Institutionen behindern nicht nur die Abkehr von der «grünen Revolution» und der industriellen Tierhaltung, sondern untergraben auch die notwendige Transformation des Ernährungssystems. Gleichzeitig wird in vielen Ländern die Zivilgesellschaft immer stärker zensiert, eingeschüchtert und entmutigt. Nur vier Prozent der Weltbevölkerung genießen uneingeschränkte zivilgesellschaftliche Freiheiten und können für ihre Rechte eintreten.(44) Wichtige politische Reformen werden blockiert oder auf die lange Bank geschoben.

Zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen setzen sich für den ganzheitlichen Ansatz der Agrarökologie als Gegenmodell zur industriellen Landwirtschaft und zum konzerndominierten Ernährungssystem ein. Im Zeitraum von Anfang 2014 bis September 2018 entfielen 7,7 Prozent der landwirtschaftlichen Mittelzusagen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) auf agrarökologierelevante Vorhaben.(45) Die Agrarökologie systematisch und kohärent zu fördern, bedeutet mehr Vielfalt über und unter der Erde, lokale Lösungen durch lokale Akteure, die Kontrolle der bäuerlichen Produzentinnen und Produzenten über ihre natürlichen Lebensgrundlagen, eine ortsnahe Versorgung mit gesunden Lebensmitteln durch Vermarktungsnetzwerke, Bottom-up-Prozesse und die gleichberechtigte Mitbestimmung von Frauen und Männern. All dies müsste mit einer Umverteilung von Agrarsubventionen und fairen Handelsabkommen einhergehen. Ebenso müssten die Gentechnik inklusive «Gene Drives», der Einsatz von Reserveantibiotika in der industriellen Tierhaltung sowie Patente auf Pflanzen, Pflanzenteile und DNA-Sequenzen verboten werden.

Allzu häufig werden die Plantagenarbeiterinnen und -arbeiter vergessen, wenn es um die Bekämpfung des Hungers geht. Ihre Rechte müssen besser geschützt werden, auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Existenzsichernde Löhne, die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen und verbindliche Regeln für Unternehmen zur Einhaltung von Menschenrechten im Ausland sind erforderlich. Obwohl immer noch patriarchale Systeme Frauen diskriminieren, wird die wichtige Arbeit von Frauenorganisationen zu wenig unterstützt. Ein solidarisches Miteinander von Frauen und Männern basiert auf gleichen Rechten, einem gewaltfreien Umgang miteinander und gleichen Entwicklungschancen. Nur wenn die soziale Ungleichheit reduziert wird, sind nachhaltige Fortschritte im Bereich der Hungerbekämpfung möglich.

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