Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit für Dich?

Sudha Varghese: Geschlechtergerechtigkeit ist eine ganz neue und andere Welt für uns Frauen und Mädchen in der indischen Gesellschaft. Sie bedeutet, dass es den gleichen Anteil an Macht, Positionen, Möglichkeiten und Chancen gibt; das Geschlecht sollte nicht darüber entscheiden, wer weniger und wer mehr bekommt.

Sudha Varghese ist Gründerin und Geschäftsführerin der indischen Frauenrechtsorganisation Nari Gunjan
Sudha Varghese ist Gründerin und Geschäftsführerin der indischen Frauenrechtsorganisation Nari Gunjan

Und Geschlechtergerechtigkeit ist nur möglich, wenn es Gleichstellung gibt – und nicht die einen bevorzugt und die anderen ignoriert werden. Denn wenn eine Tradition aufrechterhalten wird, die das Männliche als übermächtig ansieht und als das, was die Familie und die Gesellschaft brauchen, dann wird das Weibliche zu einem unwichtigen Zusatz, zu etwas, das man nur braucht, um bestimmte Funktionen in Familie und Gesellschaft zu erfüllen.

Daher erfordert Geschlechtergerechtigkeit eine Revolution. Einstellungen und Verhalten müssen sich ändern. Und es braucht die Bereitschaft, alle angemessen zu beteiligen und allen die gleiche Unterstützung zukommen zu lassen.

Was sind aus Deiner Sicht die größten Herausforderungen in Bezug auf soziale Ungleichheit für Frauen und Mädchen?

Sudha Varghese: Zunächst einmal ist das patriarchale System die größte Herausforderung. Es sind starre Systeme, in denen Entscheidungen getroffen werden, die niemand infrage stellt, denen blind gefolgt wird.

Solche uralten Systeme und Traditionen haben Frauen und Mädchen in den Hintergrund gedrängt. Sie lassen ihnen keine Möglichkeit, ihre gegenwärtige Situation zu betrachten und laut zu fragen, warum die Dinge so schlecht für sie sind. Ihnen wird der Zugang zu Bildung verwehrt. Bildung würde ihnen die Möglichkeit geben, nach Gründen zu suchen, warum sie anders behandelt werden. Bildung ist das mächtige Instrument gegen Diskriminierung, Ungleichheit und Doppelmoral in der Gesellschaft.

Und dass Söhne in den Familien bevorzugt werden, lässt Mädchen keine Chance, normal aufzuwachsen und zu einer Frau mit allen Möglichkeiten zu werden. Stattdessen erwarten sie Entbehrungen und ein Kampf ums Überleben. Ein Mädchen muss fürchten, dass ihr Leben bedroht wird oder ihre Würde; sie kann nicht sicher sein vor sexueller Belästigung, Vergewaltigung und Mord.

Wirtschaftlicher Mangel ist eine weitere Herausforderung. Selbst wenn die Familie wirtschaftlich gut dasteht, gibt sie ungern einen Teil des väterlichen Eigentums dem Mädchen. Nur Söhne werden als geeignete Erben des Familienvermögens angesehen. Dadurch bleibt das Mädchen immer abhängig von ihrem Mann und ihren Schwiegereltern – jedes Mal, wenn sie auch nur ein bisschen Geld braucht. Nach der Heirat hat sie keine Rechte in ihrer eigenen Familie.

Was muss sich ändern, damit die soziale Ungleichheit zwischen Frauen und Männern verringert wird?

Sudha Varghese: In einer Gesellschaft, die von der Kastenordnung beherrscht wird, brauchen wir tiefgreifende Veränderungen. Selbst die Frauen der oberen Kasten werden unter Kontrolle gehalten.

Besonderes Augenmerk muss auf die Bildung von Mädchen gelegt werden, damit sie furchtlos werden und die Gesellschaft und ihr voreingenommenes Denken zu durchschauen lernen. Die Frauen brauchen Sensibilisierungsprogramme und Möglichkeiten, sich mit anderen Frauen auszutauschen. So lernen sie zuzuhören, sich auszudrücken und Dinge zu hinterfragen.

In unserem Land gibt es viele Gesetze, aber die Umsetzung ist schwach. Viele Frauen wissen nicht, welche gesetzlichen Bestimmungen es zu ihrem Schutz gibt, welche Rechtsbehelfe, welche Entschädigungen für Verbrechen gegen sie. Sie kennen nicht die Freiheiten, die die Verfassung ihnen garantiert. Der springende Punkt ist, dass wir einen Einstellungswandel und eine proaktive Umsetzung von Gesetzen brauchen, die zur Selbstsicherheit der Frauen beitragen – damit sie das aushandeln können, was ihnen vorenthalten wird.

Sudha Varghese ist Gründerin und Geschäftsführerin der indischen Frauenrechtsorganisation Nari Gunjan, einer Partnerorganisation von Oxfam Indien. Nari Gunjan arbeitet mit Oxfams Unterstützung im indischen Bundesstaat Bihar intensiv mit Männer-, Frauen-, Mädchen- und Jungengruppen zusammen, um ihr Bewusstsein für Geschlechter- und Diskriminierungsfragen zu schärfen und Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu beenden. In marginalisierten Gemeinschaften in Bihar, die nicht durch staatliche Programme erreicht und bis heute benachteiligt werden, fördert Nari Gunjan zudem die Bildung und Berufsausbildung von Mädchen. Einige der Mädchen studieren inzwischen an Hochschulen, setzen sich gegen Kinderehen ein und erreichen wirtschaftliche Unabhängigkeit durch ihre Berufsausbildung.

 

Oxfams Einsatz für Frauenrechte

Auf politischer Ebene und gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen setzen wir uns dafür ein:

  • Frauenrechte weltweit zu stärken,
  • Frauen mehr Gehör zu verschaffen,
  • Gewalt gegen Frauen zu beenden,
  • Frauen in ihrer Arbeit zu entlasten und wirtschaftlich zu fördern,
  • Frauen und Mädchen einen besseren Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Bildung und Einkommen zu ermöglichen.

Grundsätzlich fördern wir nur Projekte, die sich positiv auf die Situation von Frauen und Mädchen auswirken.

Unterstützen Sie unsere Arbeit:

Jetzt spenden