Der Beitrag ist urspünglich Mitte Februar 2021 bei Oxfam Ost- und Zentralafrika unter dem Titel „Equitable access to COVID-19 vaccines in Africa: A long road ahead” erschienen. Da der Beitrag aus dem Englischen übersetzt wurde, sind nachstehend auch englischsprachige Quellen verlinkt.

Der afrikanische Kontinent und seine Bevölkerung haben Grund zur Sorge. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie gab es laut den Afrika-Zentren für Gesundheitskontrolle und Prävention (Africa CDC) bis zum 17. Februar 2021 über 3,7 Millionen registrierte Fälle und über 99.000 Todesfälle. Die optimistische Annahme, dass der afrikanische Kontinent weniger von der Pandemie betroffen sein könnte und die Welt die COVID-19-Pandemie schnell hinter sich lässt, hat sich verflüchtigt. Stattdessen sehen wir uns nun mit der Realität konfrontiert, dass die Anzahl der Infektionen rasant steigt. Es gibt immer mehr ansteckende Mutationen, während es gleichzeitig an den erforderlichen Gesundheitseinrichtungen fehlt, wodurch sich die Situation weiter verschlimmert.

Weltweit ist ein Wettlauf um die Produktion, den Kauf und die Verteilung von Impfstoffen zu beobachten. Denn die Impfstoffe gelten als bester Lösungsansatz, um die negativen Auswirkungen eines kontinuierlichen Kreislaufs von Corona-Infektionen zu stoppen oder zu minimieren. So stellt der sogenannte „Impfstoff-Nationalismus“ reicher Nationen den afrikanischen Kontinent im Jahr 2021 vor neue Herausforderungen. Reiche Länder, die nur 13 % der Weltbevölkerung repräsentieren, haben bereits mehr als die Hälfte (51 %) der Dosen der führenden Impfstoffkandidaten gehortet. Die Länder Afrikas laufen Gefahr, zurückgelassen zu werden.

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Riskiert die Welt eine „moralische Katastrophe“, wenn sich die COVID-19-Impfungen in Afrika verzögern?

Aus der Vergangenheit ist eine vergleichbare Situation bekannt: Im Kampf gegen HIV dauerte es sieben Jahre, bis antiretrovirale Medikamente zur Behandlung von HIV in ärmeren Ländern öffentlich verfügbar waren. Wir waren erschreckend langsam bei der Sicherstellung eines gerechten Zugangs zu lebensrettenden Medikamenten, obwohl viele Forschungsvorhaben im Zusammenhang mit HIV in afrikanischen Ländern stattfanden. Vielleicht lag es an schwachen und zersplitterten Regulierungssystemen, die zu Verzögerungen bei der Zulassung von Medikamenten und Arzneimitteln führten. Oder wir haben es versäumt, mehr Forderungen an die großen Pharmaunternehmen und den Rest der Welt zu richten, um sicher zu stellen, wie und zu welchen Konditionen die Medikamente an die Bevölkerung und die Gesundheitsämter verteilt werden.

Deshalb die Frage: Wird es einen gerechten Zugang zu COVID-19-Impfstoffen für afrikanische Länder geben oder entsteht eine „Pandemie der Zurückgelassenen“, die zunehmend vor allem die Armen der Welt tötet? Tatsächlich ist die aktuelle Lage ein extremes Beispiel für das Sprichwort „Kein Mensch (oder in unserem Fall kein Land oder Kontinent) ist eine Insel“. Und ebenfalls für die afrikanische Redewendung „Es braucht ein Dorf ...“, welche auf dem Konzept von Ubuntu basiert, einer Philosophie, die für Menschlichkeit, Nächstenliebe und Gemeinsinn steht.

Die Realität zeigt, dass wir die Pandemie erst dann überwinden, wenn wir sie überall bekämpft haben. Die Aussicht auf Zugang zur erforderlichen Menge an Impfstoffen ist für den afrikanischen Kontinent allerdings gering. Es ist zu befürchten, dass viele Länder bis 2024 warten müssen, bis ihre gesamte Bevölkerung geimpft ist. Um 60 % ihrer Bevölkerung zu impfen (die geschätzte Mindestanforderung für eine Herdenimmunität), benötigen die afrikanischen Länder für die rund 1,2 Milliarden Menschen etwa 1,5 Milliarden Impfstoffdosen. Bei den meisten Impfstoffen sind zwei Dosen notwendig, damit sie ausreichend vor dem Virus schützen.

Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass afrikanische Länder nur etwa 20 % der benötigten Impfstoffe über das internationale COVAX-Programm (eine Gruppe von Ländern und Partnern unter Federführung der Vereinten Nationen, die ihre Impfstoffbeschaffung zusammenlegen, um bessere Konditionen zu erzielen) erhalten werden. Die Kosten für den Impfstoff und den Aufbau von Systemen und Strukturen, die für die Lieferung erforderlich sind, werden auf 7 bis 10 Milliarden US-Dollar geschätzt, so die Afrika-Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention (Africa CDC). Im Durchschnitt sind die afrikanischen Länder zu 42 % auf Massenimpfkampagnen vorbereitet, der angestrebte Richtwert liegt bei 80 %.

Die Kosten für die COVID-19-Impfstoffe mit der größten Wirksamkeit reichen von 19,50 US-Dollar pro Dosis (Pfizer-BioNTech mRNA-Impfstoff) bis zu circa 37 US-Dollar pro Dosis (Moderna mRNA-Impfstoff). Das ist für die meisten Länder des Kontinents, in denen die Verschuldung bereits sehr hoch ist, entsprechend kostspielig. Oxfams Bericht „Das Ungleichheitsvirus“ zeigt, dass die durch die Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise externe Ressourcen der Länder stark belastet hat. Die Überweisungen von Migrant*innen in ihre Heimatländer sind beispielsweise um 20 % zurückgegangen. Zudem zeichnen sich ein Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen und des Handels um 25 %, ein Verfall der Rohstoffpreise und eine Kapitalflucht von historischem Ausmaß ab. Die internationale Reaktion der G20-Staaten hat lediglich zu einem Aufschub von Schuldendienstzahlungen für 46 Länder in Höhe von 5,3 Mrd. US-Dollar geführt. Das entspricht gerade einmal 1,66 % der Schulden der Länder mit mittlerem Einkommen im unteren Bereich. Darum ist ein breit angelegter, sofortiger Schuldenerlass dringend notwendig. Aber die G20-Staaten schrecken davor zurück, starke Banken und Investmentfonds zu einem Schuldenerlass für ärmere Länder zu verpflichten. Für Letztere wird es so zu einer Herkulesaufgabe, die Impfstoffe zeitnah zu kaufen. Und das, obwohl einige der klinischen Versuche für die Impfstoffentwicklung ironischerweise in afrikanischen Ländern durchgeführt wurden.

Das Virus rückt globale Ungleichheiten in den Vordergrund

So hatte z. B. der Südsudan zu Beginn der Pandemie mehr Vizepräsidenten (fünf) als Beatmungsgeräte (vier), während es in zehn afrikanischen Staaten überhaupt keine Beatmungsgeräte gab. In den Ländern südlich der Sahara waren mindestens eine Million schwangere Mädchen im schulpflichtigen Alter davon bedroht, durch die Corona bedingten Schulschließungen ihren Zugang zu Bildung zu verlieren.

In Italien unterstellte der ehemalige stellvertretende Premierminister Matteo Salvini fälschlicherweise einen Zusammenhang zwischen COVID-19 und aus afrikanischen Ländern kommenden Asylbewerber*innen und forderte deshalb Grenzschließungen. In den ersten Monaten der Pandemie kam es zwar zu einem Einbruch an der Börse, bei dem Milliardär*innen einen Vermögensverlust hinnehmen mussten. Der war jedoch nur von kurzer Dauer. Denn neun Monate später hatten die Top-1.000 der weltweiten Milliardär*innen, zumeist weiße Männer, bereits das gesamte Vermögen, das sie anfänglich einbüßen mussten, zurück erwirtschaftet. Zweifelsohne hat die Krise unsere kollektive Schwachstelle offengelegt und bewiesen, dass unser Wirtschaftssystem Ungleichheiten verstärkt und nicht für alle funktioniert. Was können wir also tun?

Forderung 1: Ein fairer Wissensaustausch

Es ist längst an der Zeit, dass wir gemeinsam die Lücken beim Zugang zu den Impfstoffen für afrikanische Länder schließen. Ein gerechter Zugang zu COVID-19-Impfstoffen sollte hierfür der Ausgangspunkt sein. Dementsprechend fordert Anna Marriott, Oxfams Expertin für globale Gesundheitspolitik: „Niemand sollte daran gehindert werden, einen lebensrettenden Impfstoff zu bekommen, nur weil er in einem anderen Land lebt oder nicht so viel Geld in der Tasche hat.“ Pharmaunternehmen, die COVID-19-Impfstoffe entwickeln, müssen ihre Technologie und ihr Wissen im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereitwillig zur Verfügung stellen. Die strukturellen Barrieren, die einen gerechten Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten und Gesundheitstechnologien auf dem afrikanischen Kontinent verhindern, müssen adressiert werden. Andernfalls wird der Wettstreit um den Impfstoff noch einige Zeit andauern.

Forderung 2: Transparente Entscheidungen auf Augenhöhe

Zudem ist die Zusammenarbeit aller Beteiligten, einschließlich privater Geber, Pharmaunternehmen und Regierungen, für die Bekämpfung von COVID-19 absolut notwendig. Sie muss auf Solidarität beruhen und nicht auf der Durchsetzung geopolitischer oder marktwirtschaftlicher Interessen. Wenn uns die Pandemie etwas Entscheidendes gezeigt hat, dann, dass Regierungshandeln zum Schutz unserer Gesundheit und Lebensgrundlagen wichtig ist. Wenn es um den Zugang zu Impfstoffen geht, müssen wir uns deshalb für die Beteiligung aller afrikanischen Regierungen einsetzen, inklusive derjenigen, die die Pandemie für einen Schwindel halten und den Impfstoffen gegenüber skeptisch sind. Ebenso müssen wir uns dafür einsetzen, dass die Zivilgesellschaft an der Entscheidungsfindung teilhaben kann und dass alle Entscheidungen transparent und nachvollziehbar gestaltet werden.

Forderung 3: Investition in Forschung und Kapazitäten

Zusätzlich müssen afrikanische Länder in die Forschung und den Ausbau ihrer Kapazitäten investieren. Nur so können grundlegende Strukturen geschaffen werden (Tests, Herstellung von Impfstoffen, Diagnostik, Lagerung, Ausbildung von Gesundheitspersonal und Rückverfolgung von Kontakten), die maßgeblich dazu beitragen, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und die übermäßige Abhängigkeit von anderen Ländern zu minimieren. Auch der Austausch von Technologien ist entscheidend für die schnelle Herstellung und Verteilung von Impfstoffen. Dabei könnte es helfen, dass alle Staaten gemeinsam an einem Strang ziehen.

Die Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union sollten konkrete Bedingungen für die Forschung, Entwicklung, Herstellung oder Verteilung von COVID-19-Impfstoffen fordern. Eine Lockerung des TRIPS-Abkommens (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums) würde es afrikanischen Ländern beispielsweise ermöglichen, Zugang zu pharmazeutischen Inhaltsstoffen zu erhalten. So wäre u. a. die Herstellung von Impfstoffen zu wesentlich geringeren Kosten denkbar.

Eine rasche Umsetzung der Panafrikanischen Freihandelszone (AfCFTA) würde den afrikanischen Volkswirtschaften ebenfalls helfen, sich von der COVID-19-Pandemie schneller zu erholen und regionale Wertschöpfungsketten langfristig zu stärken. In ähnlichen Krisensituationen könnten Afrikas Nationen durch diesen Zusammenschluss negative Auswirkungen besser abfedern.

In diesem Kontext müssen sowohl der Informationsaustausch zur tatsächlichen Situation in den Ländern als auch die politischen Entscheidungen der Regierungen transparenter werden. Dazu gehört u. a. die Auseinandersetzung mit verbreiteten Mythen sowie mit realen oder subjektiv empfundenen Ängsten bezüglich der Wirksamkeit verschiedener Impfstoffe. Gemeint ist z. B. die Diskussion um den Impfstoff von AstraZeneca, dessen Wirksamkeit gegen die südafrikanische Variante des Virus und bei über 65-Jährige debattiert wird.

Entwickelt sich aktuell eine globale Impfstoff-Apartheid?

Die aktuelle Antwort lautet leider „ja“. Wir leben in einer globalen Gemeinschaft. Die reichen Nationen können nicht adäquat auf die Pandemie reagieren, wenn sie nicht verstehen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Nachdem die britische Regierung am 1. Februar 2021 verkündete, dass in einigen Teilen Englands bereits 105 Fälle der südafrikanischen COVID-19-Variante entdeckt wurden, haben Großbritannien und andere europäische Länder sofort ihre Grenzen für Reisende aus Ländern im Süden Afrikas geschlossen – eine Maßnahme, um die Verbreitung der südafrikanischen Variante zu verhindern. Doch wie konnte dies überhaupt passieren, wenn es doch bereits zuvor Reiseverbote gab?

Ganz einfach: weil wir eine globale Gemeinschaft sind. Viele Menschen leben und arbeiten außerhalb des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Oder sie haben Verwandte, die in anderen Teilen der Welt leben, oft auch im Globalen Süden. Und die Arbeit vieler Unternehmen, beispielsweise in der Entwicklungszusammenarbeit und bei humanitären Aktivitäten, erfordert die Bewegung über Ländergrenzen hinaus.

Das bedeutet: Es ist fast unmöglich zu verhindern, dass sich die Varianten des Virus über die Ländergrenzen hinwegsetzen und zwischen dem Globalen Norden und Globalen Süden bewegen. Auch das ursprüngliche COVID-19-Virus hat sich ausgehend von China zunächst im Globalen Norden und dann im Globalen Süden verbreitet.

Genauso wie die rassistische Apartheid letztlich sowohl den Menschen geschadet hat, die von ihr profitierten, als auch denjenigen, die von ihr unterdrückt und ausgegrenzt wurden, könnte die ungleiche Verteilung des COVID-19-Impfstoffes beiden Seiten schaden. Wir können unsere Interessen nicht erfolgreich durchsetzen, ohne ebenfalls die Interessen von Personen, die besonders schutzbedürftig sind oder ausgegrenzt werden, als gleichwertig zu betrachten. Noch besteht die Möglichkeit, eine globale Impfstoff-Apartheid abzuwenden. Wenn alle drei aufgezeigten Maßnahmen priorisiert werden, können wir das Blatt wenden und den Trend umkehren. Dazu muss jedoch gemeinsam und schnell gehandelt werden: Zögern ist keine Option.

 

Über die Autor*innen

Lydia Zigomo ist die Regionaldirektorin von Oxfam Ost- und Zentralafrika.
Martin Namasaka ist der regionale Medien- und Kommunikationsberater bei Oxfam Ost- und Zentralafrika.

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