1. Wir alle wissen, dass es hohe Dunkelziffern dieser Zahlen gibt: Menschen infizieren sich und haben kaum oder keine Symptome. Menschen sterben zu Hause und wurden nie getestet.
    Wenn dies bei uns gilt, umso mehr in armen Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen, zu denen oft nur Privilegierte Zugang haben.

    Die Zahlen werden erfasst und ständig auf den neusten Stand gebracht, laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es am 14. Mai über 4,2 Millionen bestätigte Fälle, davon 187 in der Zentralafrikanischen Republik, 25 in Nikaragua, 27 in Burundi und 72 im Jemen. Aber wer mit Menschen aus diesen Ländern spricht, hört immer das Gleiche: Niemand glaubt diesen Zahlen. Wie auch? Woher soll die Kapazität in fragilen Kontexten oder Krisengebieten kommen, Menschen auf das Corona-Virus zu testen? Und woher der politische Wille, sich den Folgen der Pandemie zu stellen, wenn Wahlen vor der Tür stehen oder die Regierung bereits mit heftigen Protesten zu tun hat? Zuzugeben, dass die Pandemie um sich greift und nicht kontrollierbar ist – und das ist die erschütternde Realität in fast allen armen Ländern – würde Konflikte schüren und die Wiederwahl gefährden. Die Realität ist: In armen Ländern wird kaum getestet, und kaum jemand traut den Zahlen. Wir sollten es auch nicht tun.
  2. Die Folgen sind schon jetzt dramatisch – auch dort, wo es kaum registrierte Fälle gibt. Fast alle Länder der Welt haben Ausgangssperren und Reisebeschränkungen verhängt. Während diese Maßnahmen sicher sinnvoll sind, um die Verbreitung des Virus zu verhindern, führen sie für viele Menschen umgehend zu einer Verschärfung von Armut, und häufig zu Hunger. Menschen, die „von der Hand in den Mund leben“, die ihr tägliches Brot damit verdienen, ihre landwirtschaftlichen Produkte auf der Straße oder auf dem Markt des Dorfes zu verkaufen. Menschen, die nicht mehr zu den Plantagen kommen, auf denen sie normalerweise arbeiten, weil die Busverbindungen eingestellt wurden, oder Sexarbeiter*innen, die ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen können, weil Ausgangssperren dies verhindern. Die Aussage: „Wenn die Pandemie die ärmsten Länder erreicht, wird dies katastrophale Folgen haben“ muss korrigiert werden: Die Folgen sind bereits katastrophal und es sind insbesondere die wirtschaftlichen Folgen der staatlich verordneten Schutzmaßnahmen, die für viele Menschen ohne festes Arbeitsverhältnis existenzgefährdend sind.
     
    Stephen Devereux, britisch-südafrikanischer Wissenschaftler

     

  3. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass es kaum verlässliche Zahlen gibt, erreichen uns erschütternde Berichte über die gesellschaftlichen und politischen Folgen der Pandemie. Besonders problematisch sind Auswirkungen auf  Frauen: Unsere Partnerorganisationen in Tunesien berichten, dass sich die Hilfegesuche von Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind, seit den Ausgangsbeschränkungen dramatisch erhöht haben. Selbst das tunesische Frauen- und Familienministerium gibt öffentlich bekannt, dass die Anzahl der Notrufe um das 5-fache gestiegen ist. In Indien ist nicht nur die Existenz von Millionen Wanderarbeiter*innen bedroht. Die Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy hat eindrücklich beschrieben, wie der Ausbruch der Pandemie systematisch genutzt wird, um Muslim*innen zu verunglimpfen. In vielen Ländern werden Menschen stigmatisiert, wenn sie Erkältungssymptome zeigen. In Gebieten, die Erfahrung mit dem Ebola Virus machen mussten, herrscht oft panische Angst – auch, wenn die Folgen einer Infizierung mit dem Corona-Virus ungleich harmloser sind. Laut UN haben afrikanische Länder bereits im März diesen Jahres 29 Milliarden US-Dollar durch die Pandemie  verloren. Das ist so viel wie das gesamte Bruttoinlandsprodukt von Uganda.

    Wenn wir über die weltweiten Folgen der Corona-Pandemie sprechen, tun wir dies zumeist aus unserer nördlichen Perspektive. Der Entwicklungs-Experte Duncan Green hat daher verschiedene Stimmen von Wissenschaftler*innen und Journalist*innen aus Afrika und Indien zusammengetragen. Ein Versuch, denjenigen eine Plattform zu bieten, die von den jetzt schon dramatischen Folgen berichten können.

    In Europa und den USA wurden Konjunkturpakete in Milliardenhöhe beschlossen, um die Folgen der Pandemie abzumildern. Die Bereitschaft zur Unterstützung armer Länder ist ungleich geringer. Die Zahlen suggerieren, die Krise sei dort noch gar nicht angekommen. Aber das ist falsch: Sie ist schon längst da und hat bereits brutal zugeschlagen. Wir dürfen nicht warten, Unterstützung wird dringend gebraucht! Nicht nur, um Hygienestandards zu erhöhen und COVID-19-Patient*innen zu behandeln, sondern auch und vor allem, um Millionen von Menschen vor einer neuen Armutswelle, Not und Hunger zu bewahren.
    Darum sind die Forderungen nach einem „Rettungspaket für alle“ mit Schuldenerlass und anderen Hilfsmaßnahmen nicht nur berechtigt, sie sind auch dringend.

 

5 Kommentare

Gibt es noch die gesellschaftlichen Folgen, von denen arme Menschen in Deutschland betroffen sind?

Ja! Wir brauchen dringend eine sozial-ökologische Transformation.
An dieser Zukunftsaufgabe müssen sich alle Kräfte beteiligen.
Rasch und entschlossen!

Zu den dramatischen Folgen der Pandemie in den Ländern des globalen Südens zählt Oxfam auch die Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen für "Sexarbeiter*innen, die ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen können, weil Ausgangssperren dies verhindern."
Hier wird suggeriert, dass "Sexarbeit" ein Job wie jeder andere sei, der derzeit aufgrund der Pandemie nicht ausgeübt werden könne. Gerade eine Organisation wie Oxfam, deren Ziele ich rückhaltlos unterstütze, sollte aber wissen, dass Prostitution in der Dritten Welt absolut gar nichts mit "Pretty Woman"-Romantik zu tun hat, sondern die Folge von bitterer Armut und Elend ist, aufgrund derer Hunderttausende von Kindern, Mädchen, Frauen und - zu einem geringeren Teil - Männern gezwungen sind, ihren Leib, ihre Seele und ihre Menschenwürde zu verkaufen. Auch im globalen Süden prostituieren sich diese Menschen nicht auf eigene Rechnung, sondern sind Opfer brutaler Menschenhändler und Zuhälter.
Genau jetzt ist der Moment darüber nachzudenken, wie man allen diesen Menschen helfen kann, aus der Prostitution herauszukommen und ihnen eine menschenwürdige Perspektive zu eröffnen, anstatt daaruf zu setzen, dass Kontaktbeschränkungen wieder zurückgenommen werden, damit sich in Thailand und anderswo endlich wieder die "Sexarbeit" lohnt, und sich Mädchen und Frauen von Sextouristen aus der Ersten Welt zehnmal am Tag besteigen lassen müssen.
Prostitution ist keine Arbeit, sie ist und bleibt Ausbeutung!

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