Anrufe bei Notruf-Hotlines haben in zehn untersuchten Ländern seit Anfang 2020 zwischen 25 % und 111 % zugenommen, wie ein Oxfam-Bericht von 2021 zeigt. In Tunesien beträgt der Anstieg der Hilferufe bei den Hotlines in den Monaten Februar bis März 2020 sogar 43 % – ein Anstieg um fast die Hälfte!

Dieser Anstieg an Hilferufen über Hotlines und an eskalierender geschlechtsspezifischer Gewalt deckt sich mit der Erfahrung unserer tunesischen Partnerorganisation ATFD (Association Tunisienne des Femmes Démocrates). Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Lockdowns haben Frauen, Kinder und LGBTQIA+-Personen von ihren sozialen Netzwerken isoliert und mit Tätern allein gelassen. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie verzeichnet ATFD einen signifikanten Anstieg der häuslichen Gewalt und der telefonischen Hilferufe. Der instabile politische Kontext seit 2019 belastet die junge Demokratie in Tunesien zusätzlich und stellt die Arbeit zivilgesellschaftlicher Akteure und insbesondere feministischer Organisationen wie ATFD vor neue Herausforderungen.

Fortschrittliche Gesetzgebung
Nach mehreren Jahren, in denen sich unsere Partnerorganisation ATFD für ein neues Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen eingesetzt hat, wurde 2017 das Gesetz 58 verabschiedet. Das Gesetz gilt als besonders fortschrittlich, da es ein umfassendes Verständnis von Gewalt gegen Frauen und deren Ursachen hat: Gewaltprävention, Schutzmaßnahmen und Unterstützungsangebote für Betroffene von Gewalt werden genauso in dem Gesetz abgedeckt wie die Strafverfolgung der Täter. Es umfasst zudem Tatbestände der körperlichen, psychischen, sexualisierten, wirtschaftlichen und politischen Gewalt. Damit erkennt das Gesetz das komplexe Phänomen von Gewalt gegen Frauen an und reduziert die Gesetzgebung nicht ausschließlich auf die Bestrafung der Täter.

Komplexe Umsetzung in der Praxis

Bei der Umsetzung von Gesetzen in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit und geschlechtsspezifische Gewalt gibt es in der Praxis noch einige Hürden. Fortschritte in der Gesetzgebung treffen leider nicht automatisch auf eine fortschrittliche Gesellschaft oder aufgeschlossene Behörden.
Und Hürden wie diese erfordern Lösungsansätze sowie einen Veränderungsprozess auf unterschiedlichen Ebenen. Deshalb verfolgt die Bewegung ATFD in ihren Anstrengungen gegen geschlechtsspezifische Gewalt einen Mehrebenen-Ansatz“. In der Praxis bedeutet das ein umfassendes Angebot von Schutzmaßnahmen und Unterstützung für Betroffene von Gewalt. Wie diese konkret aussieht, ist vom jeweiligen Fall abhängig.
Zum besseren Verständnis hier ein Beispiel aus der Arbeit von ATFD:

Für landesweite Bestürzung sorgte 2021 der Fall einer 32-jährigen Mutter von vier kleinen Kindern, die von ihrem Ehemann massiv verstümmelt worden war. Auf psychologischer Ebene werden die Schwerstverletzte und ihre Kinder fortlaufend durch die Fachkräfte von ATFD betreut. Zudem beantragte eine ATFD-Anwältin Anhörungen beim Frauenministerium, beim Sozialministerium und beim Gouverneur von Tunis. Die Frauenministerin sagte daraufhin eine finanzielle Soforthilfe für die Mutter und ihre Kinder zu. Beim Minister für Soziales konnten außerdem Wohnraum und Unterhaltsleistungen beantragt werden.
Erschwerend für die betroffene Frau und unsere Partnerorganisation ATFD sind allerdings die politischen Realitäten: In Behörden kam es zu zahlreichen Entlassungen in Folge eines erneuten Regierungswechsels, sodass sich der gesamte Vorgang, nicht zuletzt durch die Einschränkungen der COVID-19-Pandemie, in die Länge zieht.
Dieser Fall wird juristisch, psychologisch und auf sozialer Ebene von ATFD weiterverfolgt und ist aktuell Gegenstand eines Gerichtsverfahrens gegen den inhaftierten Täter.

ATFD beobachtet seit der Verabschiedung des Gesetzes 2017, dass mehr von Gewalt betroffene Frauen tatsächlich Hilfe suchen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass mehr Frauen von Gewalt betroffen sind, sondern dass sich mehr Frauen trauen, Hilfsangebote wahrzunehmen. Jedoch handelt es sich bei Betroffenen von Gewalt, die Unterstützung suchen, auch in Zeiten einer dualen Pandemie immer nur um die Spitze des Eisberges. Wichtig ist, die Unterstützungsmechanismen nach aktuellen Bedürfnissen auszurichten und die Organisationen und Bewegungen bei ihrem Engagement zu fördern.

Gemeinsam für Geschlechtergerechtigkeit

Hinter den zahlreichen Hilferufen, die ATFD täglich erreichen, verbergen sich Notlagen, die zum einen eine umfangreiche Hilfestellung erfordern und zum anderen aufzeigen, wie wichtig Präventionsmaßnahmen und ein gesamtgesellschaftlicher und politischer Bewusstseinswandel sind.

Deshalb organisiert sich die feministisch engagierte Zivilgesellschaft in Tunesien in der „Nationalen Koalition zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“, deren Lenkungsausschuss auch ATFD angehört. Diese Koalition veröffentlicht Forderungen und Plädoyers gegen wiederkehrende und skandalöse Gewalt und reicht entsprechende Klagen bei Gericht ein. ATFD überwacht als Teil der Koalition die tatsächliche und effektive Anwendung des Gesetzes, identifiziert Schwierigkeiten und unterstützt bei der Umsetzung des Gesetzes. Da Präsenzsitzungen seit Beginn der COVID-19-Pandemie nur eingeschränkt möglich sind, organisiert ATFD diese als digitale Zusammenkünfte. Zusätzlich bietet unsere Partnerorganisation zahlreiche Webinare zur Sensibilisierung, Weiterbildung und Schulung von Menschen an, die sich aktiv gegen geschlechtsspezifische Gewalt einsetzen.

2021 konnte ATFD zudem ihre Studie „Der Zugang zur Justiz für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind – Hindernisse und Herausforderungen“ in französischer und arabischer Sprache veröffentlichen. Die Studie wurde unter anderem auf einer Pressekonferenz und während der weltweit jährlich stattfindenden „16 Aktionstage zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder“ (25.11. bis 10.12.) zuständigen Ministerien, einer breiten Öffentlichkeit und Kooperationspartner*innen vorgestellt.

Gesellschaftlicher und politischer Wandel

Gerade in Zeiten der COVID-19-Pandemie und politischer Unsicherheiten geht es darum, Beratungs- und Betreuungsangebote zu verbessern und Fortbildungsmöglichkeiten, Öffentlichkeitsarbeit, Prävention von Gewalt sowie die Vernetzung der Zivilgesellschaft aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Alles zusammen sorgt dafür, dass sich mehr Menschen bestärkt fühlen und besser für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Diskriminierung einsetzen können. Und das ist wichtig, wenn wir das Ziel unserer Zusammenarbeit erreichen wollen: Frauen, Kinder und LGBTQIA+-Personen können ihre Rechte gezielt und stark einfordern und leben.
Für dieses Ziel müssen wir uns gemeinsam mit ATFD auch dafür einsetzen, dass weitere diskriminierende Gesetze geändert werden und stattdessen bessere Gesetze einfordern und deren konsequente Umsetzung unterstützen.

Denn: Geschlechtsspezifische Gewalt ist nicht unabwendbar. Es liegt an uns allen, sie zu beenden.

Für mehr Hintergrundinformationen zu der Zusammenarbeit zwischen ATFD und Oxfam lesen Sie unseren Projektbericht.

Kommentieren

Wir freuen uns über anregende Diskussionen, sachliche Kritik und eine freundliche Interaktion.

Bitte achten Sie auf einen respektvollen Umgangston. Auch wenn Sie unter einem Pseudonym schreiben sollten, äußern Sie bitte dennoch keine Dinge, hinter denen Sie nicht auch mit Ihrem Namen stehen könnten. In den Kommentaren soll jede*r frei seine Meinung äußern dürfen. Doch es gibt Grenzen, deren Überschreitung wir nicht dulden. Dazu gehören alle rassistischen, rechtsradikalen oder sexistischen Bemerkungen. Auch die Diffamierung von Minderheiten und Randgruppen akzeptieren wir nicht. Zudem darf kein*e Artikelautor*in oder andere*r Kommentator*in persönlich beleidigt oder bloßgestellt werden.

Bitte bedenken Sie, dass Beleidigungen und Tatsachenbehauptungen auch justiziabel sein können. Spam-Meldungen und werbliche Einträge werden entfernt.

Die Verantwortung für die eingestellten Kommentare sowie mögliche Konsequenzen tragen die Kommentator*innen selbst.